stuttgart aus der ferne betrachtet

foto: bastian_r (flickr/cc)

michael schlieben schreibt in der „zeit“ über das stuttgarter experiment, es sei geglückt. über weite strecken kann ich ihm da auch zustimmen. aus der ferne gesehen hat mich nicht die frage „oben bleiben“ oder „tieferlegen“ empört. der skandal war nicht, dass es zu einer grosszügigen umplanung eines verkehrsknotenpunktes kommen soll. es ging um die partizipation der bevölkerung an der entscheidung bzw. um die transparenz in der planung solcher vorhaben. und um das präpotente, aggressive vorgehen der betreibenden.

da meinten manche, sie könnten einfach über das volk „drüberfahren“, doch die stimmung ist dann gekippt, öffentliche verhandlungen wurden geführt, eine regierung abgewählt und nun ein neuerlicher entscheid getroffen.

fast könnte es ein glücksfall sein, dass dieser entscheid nicht so ausgegangen ist, wie die gegnerInnen es sich gewünscht hätten. dadurch wird nun klarer, wo der erfolg liegen könnte: in einer direkten demokratie. in transparenz. in partizipation.

doch leider dürfen und können wir diesem erfolg nicht trauen. viel schwerwiegendere, dramatischere entscheidungen werden nach wie vor ohne uns getroffen. wo bleibt im fall der sogenannten wirtschaftskrise die transparenz, die direkte demokratie? wie sieht die demokratische legitimation von merkozy aus? sind die beiden nicht längst ferngesteuerte fingerpuppen der gier?

wann haben wir entschieden ob banken oder menschen einen schutzschirm brauchen?

selbst die partizipation (die wir uns in diesem falle alle nicht wünschen) ist im falle der katastrophe nicht gerecht: es wird sehr viele geben, die schwer darunter leiden werden, aber auch die ultimativ gierigen, die sich daran immens bereichern. und die können wir weder abwählen, noch deren handeln per volksentscheid verhindern.

oder doch?

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foto:cc_icon_attribution_smallcc_icon_noderivs_small bastian_r (flickr)

vorweihnachtliches dunkel. ganz finster.

spätherbst in salzburg (bernhard jenny)

die defektorientierte wahrnehmung von mitmenschen ist in der vorweihnachtszeit besonders beliebt. „licht ins dunkel“ feiert sich – neben ähnlichen trittbrettaktionen – wieder einmal selbst, da soll freude aufkommen, wenn die spenderInnen sich wohlfühleinheiten erkaufen. toll, wieviel licht wir wieder ins dunkel gebracht haben.

es geht nicht darum, dass eine unterstützung diverser projekte nicht wichtig wäre. aber menschen mit besonderen bedürfnissen und/oder beeinträchtigungen zu einer grossen masse von hilfsempfängerInnen zu machen, die angeblich im „dunkel“ sitzen, ist erniedrigend.

„mit einer spende können sie dafür sorgen, dass x oder y …“ – solche herangehensweisen teilen unsere welt in helfende und hilfsbedürftige, in jene die licht haben und jene, die im dunkeln sitzen.

dabei sitzen wir alle selbst oft genug im dunkeln. im dunkeln des konsumismus, im dunkeln des wachstums, im dunkeln der heilen welt. menschen, die die eine oder andere beeinträchtigung oder behinderung haben, dürfen niemals zu objekten, auch nicht von beglückungsaktionen werden, sie sind wert und licht in dieser welt wie wir alle.

es geht um die augenhöhe. gemeinsam an einem tisch sitzen und nicht auf die schulter klopfen, gemeinsam die gesellschaft gestalten, damit alle bekommen, was sie zu ihrem leben brauchen, menschen in ihrem vermögen und dasein anerkennen und nicht auf den defekt reduzieren.

aber zugegeben: medienwirksamer sind schön ausgestattete heimzimmer, supergefederte rollstühle und dankbare spendenempfängerInnen. weihnachten eben. wem das immer noch zu tragisch ist, der kann mit seiner spendenwut ja auf gnadenhöfe für tiere ausweichen.

das problem ist aber nicht, dass x oder y einen besonderen rollstuhl braucht, sondern, dass dieser rollstuhl nicht von uns selbstverständlich bereitgestellt wird. wir sollten spendenaktionen für banken haben und staatliche garantien für menschen.

eine ganze gesellschaft spendet nicht für jene, die ausgegrenzt werden,
eine ganze gesellschaft grenzt nicht aus.

das kostet viel mehr energie und änderungswillen als die grösste spende ins dunkel.
aber es wäre wirklich licht!

ps. mir ist bekannt, dass verschiedene kritische stimmen („nicht ins dunkel“) aufs schärfste verfolgt wurden, institutionen und vereine, die aus den mitteln von „licht ins dunkel“ gefördert werden, mussten die kritischen stimmen beruhigen um ihre subventionen nicht zu gefährden. daher erkläre ich ausdrücklich, dass ich zwar viele vereine kenne, aber diese meine meinung hier ausdrücklich als meine persönliche äussere, die auf niemanden zurückfallen darf.

öffentlicher raum?

frage, beobachtung, befürchtung und notwendigkeit

kunst im öffentlichen raum - theaterproduktion der argekultur salzburg foto: bernhard jenny

frage: was ist öffentlicher raum?

ist öffentlicher raum der kleine rest, wo wir gerade noch etwas dürfen, ohne dass uns ein gemeindamt, ein magistrat oder ein altstadterhaltungsverein artikulation und präsenz klein regelt und harmlos macht?

ist öffentlicher raum die summe aller öffentlich sichtbaren flächen, strassen, plätze, parks, fassaden und zwischenräume, wo wir ein anrecht hätten, mitzureden, mitzugestalten, mitzuplakatieren, mitzukommunizieren?

ist öffentlicher raum die vorzeigebühne, aus der besonders in der festspielzeit menschen unsteten aufenthaltes weggeräumt werden, wo nur die einen ihren gern bestaunten auftritt haben, während andere bettelverbot bekommen?

ist öffentlicher raum der nachbarschaftsraum, wo sich beachparties und eislaufunterhaltung breit machen, weil es so schön kommerziell ist, während initiativen für asylsuchende keinen infostand aufbauen dürfen?

ist öffentlicher raum geregelt oder frei?

ist öffentlicher raum verkaufsfläche, verkaufte fläche oder ruhepol?
prostitution oder verkaufsshows, raum für geschenkte kunstobjekte einer foundation als belehrung über kunst, raum für doch nicht tiefgaragen, noch immer nicht gestalteten platz mitten im herz der innenstadt, raum des vergessens (wer will schon wissen, wo die bücherverbrennung stattgefunden hat)?

ist öffentlicher raum ein raum für jedermann aber nicht für alle?
fackeltanz auf dem einen platz, buhlschaft probt auf dem anderen, nestleaudileinwand fürs niedrige (oder besser mittlere?) volk auf dem dritten. ist lehnerpark, stölzlpark oder gar bahnhofvorplatz auch öffentlicher raum? oder nur raum, wo der gestaltungswille gescheitert ist oder noch nie da war. (im falle lehner park ein glücksfall!)

beobachtung: es wird eng im öffentlichen raum !

raum wird enger.
ressourcen werden weniger.
möglichkeiten werden alternativloser.
geld wird immer weiter weg immer mehr und in der nähe weniger.

strassen und plätze hatten versammlungsfreiheit
einkaufszentren aber haben hausrecht.

plätze, bahnhöfe, parkhäuser, flughäfen,
werbung oder productplacement statt infostand oder kundgebung.
privates hausrecht statt freier meinung.

fotorechte für landschaften?
die berge gibt es so nur bei uns und deshalb wollen wir kassieren
lizenzierte wanderungen durch mozartkugelberge?
der regenschirm auch bei schönwetter ist kein rettungsschirm
sondern ein damitdiejapanerInnenwissenwoslanggeht-objekt

dirndl und krachlederne
badeenten in lederhosen und plastikkarajans wollen verkauft werden
ungestört und echt original

aber flugblätter, kundgebungen, musizieren, freie reden,
alles braucht zulassung, genehmigung, anmeldung
sonst könnte ja jede und jeder

befürchtung: je mehr krise umso weniger öffentlicher raum!

spontankundgebungen sind ein sicherheitsproblem
wenn twitter und facebook schneller sind als die amtsstuben
und die verbindungstechnologien zwischen diversen eventuell auch noch zuständigen behörden
wenn die leut sich schon vor dem vortragssaal versammeln
bevor die polizei überhaupt weiss wer da vorträgt
wenn die gefängnismauern schon umstellt sind
bevor ein tagesbefehl intern informiert wer abgeschoben werden soll
nein
so geht das nicht

flashmobs als ausdrucksform schneller aktivität?
aktionismus für alle?
so schnell kommt kein antrag über die tische
ansuchen brauchen länger als die aktion selbst
ansuchen widersprechen dem impuls
ansuchen ist wie fragen ob wir eh dürfen und dann es doch sein lassen

notwendigkeit: je mehr krise umso mehr öffentlicher raum!

öffentlicher raum muss allen möglichkeit sein
präsenz zeigen
austausch pflegen
meinung artikulieren
protest kundgeben

wir müssen unserer gesellschaft spontanität zumuten
einfach tun, was zu tun ist,
ohne lange zu fragen oder zu warten.
wir müssen uns vernetzen, verbinden,
sichtbare gemeinschaften und communities bilden und einfach tun.

versammlungsfreiheit
gestaltungsfreiheit
genehmigungsfreiheit
verständigungsfreiheit
alarmierungsfreiheit

vom salzburger schreibtisch aus wiener freundInnen alarmieren, dass abschiebung droht. menschen informieren, wo abschiebetransporte blockiert werden können.
den menschen, die sich wirklich blockieren trauen, öffentlichkeit erzeugen.
solidarität erzielen.

und wieder raus in den öffentlichen raum.

freiheit muss tradition werden.
menschenrecht braucht keine „meldungsbewilligungsgenehmigung“.
der öffentliche raum ist für die durchsetzung von menschenrechten unverzichtbar.
das nutzen des öffentlichen raums ist ein menschenrecht.

was wollen wir?

öffentlicher raum ist raum für begegnung, für austausch, ist BODYROOM statt FACEBOOK
öffentlicher raum muss allen gehören, muss OPEN SOURCE werden, frei nutzbar (FREEWARE)
öffentlicher raum muss BARRIEREFREI werden, zugänglich für alle.

was können wir?

wir können mehr als wir dürfen.

was dürfen wir?

viel zu wenig.

was müssen wir?

selbstermächtigung fördern.
freiheit braucht keine genehmigung.

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impulsreferat bei tagung „wir sind platz“ 20111123 st.virgil salzburg
25 jahre friedensbüro salzburg

frühmorgendliche entgleisung

screenshot mediathek ard bernhard jenny

der ard-korrespondent peter dalheimer hat im gespräch mit anna planken im morgenmagazin vom mittwoch folgenden kommentar über griechenlands aktuelle situation abgegeben:

„ich glaube, wenn bundeskanzlerin merkel – gestatten sie mir diesen flapsigen ausspruch – ich glaube, wenn bundeskanzlerin merkel heute giechenland zum siebzehnten bundesland der bundesrepublik deutschland erklären würde, die mehrheit der griechen würde hurra schreien.“

geht’s noch? 1941 bis 1945 sollte das ein für alle mal letzte mal gewesen sein, dass deutschland griechenland besetzt. mit solchen bildern die verzweiflung der griechischen bevölkerung zu illustrieren ist mehr als nur daneben.

wie sehr die politische moral unter dem verbrechen, welches manche immer noch verharmlosend krise nennen und dem anmassenden gerede der merkozys und deren nachläuferInnen leidet, wird hier erkennbar. die präpotenz derer, die meinen immer alles richtig zu machen und fleissig zu sein, gegenüber jenen, die chaotisch, dumm und faul seien, wird immer grösser. das sind sehr gefährliche gräben, die hier mit breiter baggerschaufel ausgehoben werden!

deutsche (und alle anderen) machtphantasien sollten auch zu früher morgenstund gezügelt werden.

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http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=8706274

von der unruhe nach der katastrophe

es hätte durchaus ein relativ „naives“ huldigungswerk für ein vielleicht idol, zumindest lieblingsautor werden können. sidi larbi cherkaoui wollte osamu tezuka, dem „grossvater der mangas“ ein denkmal setzen. dass mitten in die arbeit cherkaouis während eines aufenthalts in tokio das erdbeben, der tsunami und die atomkatastrophe im nur 600 km weit entfernten fukushima platzen würde, konnte er nicht voraussehen. die schockwellen der katastrophe sind im neuen tanztheaterstück „tezuka“ (österreichpremiere im festspielhaus st.pölten letzten samstag) des für seine sensibilität und konzentration, besser noch den für seine zentriertheit bekannten tänzers und choreographen cherkaoui spürbar.

TeZukA Foto: c Hugo Glendinning

cherkaoui (diesmal choreograf, aber nicht tänzer) ist nach wie vor ein meister der starken bilder, tanztheater wird hier zu einer reichen abfolge ausdrucksvoller sequenzen, die erleben lassen, dass tanz uns ganz im inneren, dort wo archetypen und urmotive zuhause sind, ansprechen kann.

spielerisch manchmal, dann wieder theatralisch übersteigert, feinfühlig in manchen momenten und jedenfalls voller dynamik, stellt uns cherkaoui anhand von manga-charakteren das leben des mangakünstlers tezuka vor, die welt der mangas und wohl auch jene gefühlswelt, die einst beim noch jungen mangaleser cherkaoui gewachsen sein muss, eine gefühlswelt, die ihn vielleicht zu jenen kraftbildern befähigen, für die seine produktionen bekannt sind.

beunruhigend oder unruhig präsentiert sich „tezuka“: bereits am anfang, aber dann zwischendurch immer wieder, werden kommentierende textpassagen von den künstlerInnen gesprochen, mal in französisch, mal in englisch oder japanisch, jedenfalls aber in einem solchen tempo, dass nicht nur die eingeblendeten übertitel kaum mehr sinnerfassend gelesen werden können, sondern sich auch das gefühl breit macht, dass es nicht der wunsch des gestalters gewesen sein kann, hier ernsthaft zu dokumentieren. war es stilmittel?

beeindruckend allerdings sind nicht nur die tänzerInnen der eigens für diese produktion gebildeten compagnie – herausragend dabei kazutomi kozuki als omnipräsenter atomgetriebener „astro boy“, damien jalet als katholischer priester und guro nagelhus schia, die sich im laufe des abends zunehmend steigert und in den letzten beiden szenen zu berührender hochform findet – sondern auch die musikerInnen auf der bühne, die aus dem abend gemeinsam mit der kaligrafie von tosui suzuki, den visuals und videos ein gesamtkunstwerk werden lassen.

TeZukA Foto:  c Hugo Glendinning

dass nach dem abend der wunsch nach ruhe und zentriertheit, nach weniger erläuternden texten und mehr vertrauen in die ohnehin ungemein starken bilder des tanztheaters auftaucht, dürfte auch cherkaoui nicht überraschen.

aber vielleicht wollte und konnte bewusst dieser abend nicht mehr zur ruhe finden: die alarmiertheit ist angekommen. die erwartbare ruhe und ästhetik allein reicht vermutlich nicht mehr aus, um der welt einen spiegel vorzuhalten. niemand weiss, ob die unruhe eine nach der katastrophe bleibt, oder eine vor der katastrophe ist.

beunruhigend. weniger fürs tanztheater als für diese welt.