der schrecken über mich selbst.

die schlagzeile über hunderte tote im mittelmeer lässt aufschrecken – auch über einen selbst.

die schlagzeile „erneut hunderte tote im mittelmeer befürchtet“ steht an einem sonntagmorgen auf derstandard.at. ich bin erschrocken. aber nicht über die schlagzeile, sondern über die tatsache, dass ich beinahe einfach weitergesurft hätte, ohne mir die nachricht anzusehen. dabei habe ich an mich selbst einen anspruch, den ich offensichtlich nicht erfüllen kann: ich will nicht abstumpfen.

wir verrohen. erst dort tote, dann da ertrunkene, erst 19 erstickte in einem lkw, dann eine kinderleiche. schüsse da, tränengas dort. man hört in persönlichen gesprächen mit helfern und flüchtlingen, dass kinder und erwachsene auch auf dem landweg gestorben sein sollen. irgendwann ist dann schon eine ordentliche dosis grausamkeit notwendig, damit sie uns aufrüttelt. aber bombentote, kriegsmassaker und gekenterte boote können uns kaum mehr erschüttern.

schrecklichkeiten im alltag

die entwicklung erfasst uns alle. niemand ist davor gefeit. offensichtlich auch ich nicht. die grenzen zwischen dem, „was geht“, und dem, „was nicht geht“, sind nicht nur in der innenpolitischen auseinandersetzung verrutscht.

wir sind einer wirklichen sintflut an signalen und informationen ausgesetzt, die uns anfänglich noch irritieren oder bewegen mögen, aber irgendwann würden uns dann tausende, zehntausende oder noch mehr tote kaum mehr vom schnäppchenangebot der supermarktkette ablenken.

wir wollen beinhart zum „business as usual“ zurück, und wenn das nicht geht, integrieren wir einfach die schrecklichkeiten in unseren alltag. so what.

der schrecken über mich selbst.

(bernhard jenny, derstandard.at, 30.5.2016)

kein mensch ist ein missstand

die stadt salzburg hat heute die bettelverbotszone erweitert.
das ist eine schande.
die stadt nennt sich menschenrechtsstadt und tritt diese mit füssen.
mit den stimmen einer altehrwürdigen (ironie off) spö.

kein mensch ist ein missstand

salzburg_IMG_2535_sektoren2

_______
bild: bernhard jenny cc licence by

es ist etwas gelungen.

es ist etwas gelungen. in den letzten vier wochen haben offensichtlich viele menschen ihr stimmverhalten bei der präsidentschaftswahl viel flexibler gestaltet, als dies noch nach der ersten wahlrunde zu erwarten war.

es ist etwas gelungen. angesichts des scheinbar uneinholbar vorne liegenden rechtsextremen kandidaten liessen sich viele dennoch nicht entmutigen, sondern fanden, dass es zeit wäre, demokratietechnisch schnell was zu unternehmen. dafür ist allen zu danken, die dazu beigetragen haben.

es ist etwas gelungen. die grosse gefahr war wohl die gleichgültigkeit, die passivität oder die unentschlossenheit. dass es sich am ende doch noch ausgegangen ist, ist u.a. auch die folge diverser „grenzüberschreitungen“ zwischen lagern, parteien und ideologien. und das ist gut so. ein (ehemals) grüner kandidat war für viele immer noch fast unwählbar. für die einen weil zu links, für die anderen weil zu wirtschaftsliberal. umso bemerkenswerter, dass viele dennoch erkannt haben, dass es gilt, die braunen zu verhindern.

es ist etwas gelungen. angesichts der ausgangslage und des massiven drucks von rechts hat österreich gerade noch standgehalten und ist nicht den rechten schritt in den abgrund mitgegangen.

es ist etwas gelungen. aber ebenso muss klar sein: viele haben nicht für den erhalt des bestehenden systems gestimmt, sondern ausschliesslich gegen den tausch des jetzigen systems gegen ein nationalistisches und rechtsextremes.

es ist etwas gelungen. das bedeutet auch, dass nach wie vor „feuer am dach“ ist. mit leichten kursänderungen ist es mit sicherheit nicht getan, und neue gesichter wirken länger als ein paar sendestunden später noch als neu wirken.

es ist etwas gelungen. aber: dem rechten flügel der övp und den blauen wird es nicht schwer fallen, auch weiterhin fast geschlossen nur eine richtung vorzugeben, jene nach rechts. monodirektionale verkürzungen sind viel leichter zu vermitteln als vielfältige, heterogene und daher auch multidirektionale antworten auf die anstehenden fragen. rassismus, nationalismus, xenophobie und antiislamismus sind brandbeschleuniger in diese eine richtung.

es muss noch viel mehr gelingen. das gegenteil von rechts ist nicht links, sondern demokratie. (siehe artikel zur wienwahl 2015) damit diese demokratie attraktiv für eine sichere mehrheit sein kann, muss in allen parteien, die nicht nach rechts wollen, umgehend und schnell alles an trägheiten und alten gepflogenheiten abgeworfen werden. der stillstand, der soviele frustiert hat, ist nicht nur auf die bisherige regierung beschränkt. der stillstand ist weit verbreitet. dies gilt  auch für die grünen, die jetzt nicht den fehler begehen dürfen, sich auf lorbeeren auszuruhen, die die ihren nicht sind. in manchen zustandsbildern sind die grünen strukturell und inhaltlich durchaus mit der faymannschen verkrustung der sozialdemokratie vergleichbar. das muss sich sehr schnell ändern.

ein nunmehr überparteilicher präsident van der bellen war in dieser stichwahl die einzige option. das haben ausreichend viele erkannt. darüber dürfen wir uns ausgiebig freuen.

es ist etwas gelungen.

vorvergangenheit oder zukunft.

kaum eine wahl der letzten jahrzehnte war so richtungsentscheidend, wie jene am kommenden sonntag. österreich entscheidet über offenen rassismus, fremdenfeindlichkeit, nationalismus und rechtsextremismus einerseits oder demokratie, weltoffenheit, engagement für europa und optimistischen mut andererseits.

dass es zu dieser zuspitzung überhaupt kommen konnte, ist das ergebnis jahrelanger unfähigkeit und inkompetenz auf vielen politischen ebenen und das vorauseilend gehorsame andienen so mancher politisch unverantwortlichen bei jenen, die für das vorgestern stehen und sich die „(end)lösungen“ von damals herbeireden wollen.

der kommende sonntag entscheidet über die grundstimmung in unserem land. er entscheidet darüber, ob eine pluralistische gesellschaft das gesellschaftliche leben modern und kreativ gestalten kann oder ob der mief der burschenschaftenbuden unser land durchziehen darf, der bewusst und gezielt vielen den atem verschlagen will.

„jetzt geht es um die wurscht“ rief mir neulich ein freund zu. und im gespräch darüber mussten wir entdecken, dass diese salopp-gelassene redewendung wohl kaum den ernst der lage trifft. es geht nicht um rapid oder austria, nicht um red-bull oder frischgepressten orangensaft. es geht darum, ob die zynische hetze und die sarkastische propaganda viele dazu verleiten kann, ihren frust über missstände per stimmzettel genau an jenen auszulassen, die mit sicherheit an fehlentwicklungen unschuldig sind. es geht darum, ob jene, die noch politische verantwortung wahrnehmen können, diese auch ausüben. weiss wählen ist braun wählen. nicht zur wahl gehen bedeutet einen vorteil für den hetzer.

angesichts der drohenden gefahr von ultrarechts scheint die diskussion über die richtige strategie gespalten. auf den ersten blick scheint es zwei lager innerhalb der demokratiegesinnten zu geben. die einen setzen auf klare differenzierung und distanzierung von parteien und personen, die rechtspopulistisch bis national, bisweilen wahrlich rechtsextrem agieren. die anderen meinen, solches würde jene, die diesen parteien und protagonist_innen anhängen nur immer noch mehr zu diesen treiben und sich immer stärker mit ihnen identifizieren lassen.

„reden wir darüber“ heisst der daraus folgende schluss. „reden wir darüber“ kann heissen, dass jene, die sich als verlierer_innen wahrnehmen und – berechtigt oder nicht – frustriert sind, nicht alleine gelassen werden sollen. ein dialog kann aufklären, klarheit schaffen und lösungen ermöglichen.

„reden wir darüber“ kann aber niemals heissen, dass demokratie und gleichberechtigung zur disposition stehen. menschenrechte – jenes erbe aus der erkenntnis, dass eine shoa nie wieder passieren darf – stehen niemals zur disposition. das gilt unabhängig davon, wie die schicksalswahl am sonntag ausgeht.

wer hofer zulässt oder gar wählt, wählt spaltung, zwietracht und dumpfen nationalismus. wer demokratie will, egal ob sie/er in bürgerlichem, progressivem, graswurzel- oder sozialdemokratischem bzw. sonst noch irgendeinem kontext steht, kann am sonntag mit einer stimme für alexander van der bellen etwas unternehmen.

es geht um viel mehr als um die „wurscht“.
oft gibt es bei wahlen die option für oder gegen eine veränderung zu stimmen. aufgrund psychologischer grundgesetze ist da sehr oft das verharren im status quo populärer, als die veränderung. diesmal gibt es keine option, die ein „ruhig weiter wie bisher“ anzubieten hätte. beide kandidaten stehen für eine veränderung. am montag geht es sicher nicht weiter wie bisher.

es wird alles anders. es wird entweder vieles unmöglich oder vieles möglich.

vorvergangenheit oder zukunft.

 

______

foto: vanderbellen.at screenshot

sobotka ist untragbar

1280px-Wolfgang_Sobotka_23-05-2013_01_bearbBJ

wolfgang sobotkas auftritte und interviews zu hören oder zu lesen ist ein unterfangen, das weit über die schmerzgrenze geht. es braucht kein billiges lehrer_innen bashing, um einfach festzustellen: die bürger_innen dieses landes haben es sich nicht gefallen zu lassen, in einem oberlehrerhaften ton von „oben“ herab behandelt zu werden. und die menschen, die zu uns flüchten, ebensowenig.

wer in einem derartig abwertenden ton über menschen spricht, wer nicht davor zurückscheut, in derber manier den autoritären minister geben zu müssen, muss sich gefallen lassen, dass er einfach nicht ernst genommen wird. es gilt ihn so schnell wie möglich aus der regierung abzuschieben. umgehend.

sobotka ist untragbar

ps. in der berichterstattung über die heutige pressekonferenz, wurden auch zahlen über die herkunftsländer der ausgeforschten tatverdächtigen publiziert.

der fokus auf „die ausländer“ schlägt sich dann in solchen grafiken nieder:

kriminalitätltbmi_quelle standard
die gleichen zahlen liessen sich aber auch fair darstellen:

kriminalität_absolut.jpg

Fotos:
Michael Kranewitter, Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0 – adapted by bernhard jenny cc licence by sa, Grafik Screenshot DerStandard.at, grafik bernhard jenny cc licence by sa

 

werner, diese haltung hätte gestimmt

faymann_12049377265_ae67ef4780_o

für manche war es eine riesen überraschung. dass werner faymann dann doch so schnell zurückgetreten ist. andere hatten sich das schon lange gewünscht.

für viele war aber auch noch die abtrittsrede eine überraschung. hier war plötzlich wieder ein werner faymann am wort, wie er schon in vergessenheit geraten war. klar, kompetent und ohne wenn und aber. ja selbst die berichte der presse über vieles, was in den tagen zuvor schief gelaufen war, wurden plötzlich ohne groll zitiert. „darüber brauche ich ihnen also nichts zu erzählen.“

welche verwandlung hat werner faymann in den letzten stunden seiner amtszeit als bundeskanzler durchgemacht? was hat ihn wieder so wirken lassen, wie damals, als er als hoffnungsträger angetreten war?

er musste sich wahrscheinlich nicht mehr verbiegen. er musste nichts mehr leugnen, nichts schön reden und auch nichts dementieren. das offene und unverblümte eingeständnis über den mangelnden rückhalt in den eigenen reihen wurde zur katharsis, die all den schmuddel und knorx der vergangenen monate verschwinden liess.

hier stand ein mann, der genau wusste, wieviel es geschlagen hatte und was zu tun war. und einer, der das in klarer sprache „rüberbringen“ konnte. und plötzlich konnte er sogar noch gegner_innen beeindrucken. ein paar zumindest. hier wurde plötzlich wieder eine haltung wahrnehmbar, die soviele sehr lange vermisst hatten.

wie wäre wohl eine politik, die die akteur_innen nicht verbiegen und verkrampfen lässt, bis sie nur mehr eine erschreckende zerrfigur ihrer selbst sind? was muss passieren, damit der oder die nachfolger_innen faymanns sich nicht ebenso innerhalb weniger monate oder jahre in nicht mehr ernst zu nehmende pappfiguren verwandeln? wie wäre es mit einer neuen aufrichtigkeit und ehrlichkeit? ohne glaubwürdigkeitsverlust, der mit inseraten bekämpft wird?

ganz unabhängig von der konkreten situation der sozialdemokratie in österreich kann also festgestellt werden: die letzte rede werner faymanns war vermutlich eine der besten. schade eigentlich.
das sollte nicht immer so sein.

werner, diese haltung hätte gestimmt.

__________

foto: spö presse und kommunikation / astrid knie cc licence by sa

red bull stutzt die flügel.

es war eine dramatische nachricht: servus.tv wird abgedreht, weil die wahl eines betriebsrates diskutiert worden war.

einen tag später die wohl viel dramatischere nachricht: servus.tv bleibt nun doch erhalten, die kündigungen werden widerrufen, alles paletti.

in wirklichkeit war es die öffentliche vorführung eines moraltheaters auf denkbar grösster bühne. einer, der mit dem glaubenssatz, flügel mittels eines dosendrinks verleihen zu können, unmengen an geld gescheffelt hat, zeigt es allen, wie es heute um das wertesystem in unserer gesellschaft steht.

mitarbeiter_innen sind untertanen eines sonnenkönigs, die, wenn sie auf die idee kommen, eventuell irgendwelche rechte zu haben, die volle wucht der macht zu spüren bekommen. der blitz aus nur scheinbar heiterem himmel sollte alle von einem tag auf den anderen tag verstossen. diese volle wucht bringt aber nicht nur die mitarbeiter_innen in eine peinliche situation, in der sie sich umgehend schriftlich von jeglicher gründungsidee eines betriebsrates und auch gleich noch von jeder gewerkschaftlichen vertretung distanzieren.

die volle wucht der macht führt auch gleich noch alljene vor, die noch immer geglaubt haben, arbeitnehmer_innenrechte würden in neoliberalen zeiten der postdemokratie noch irgendetwas wert sein.

der zustand der faymannschen sozialdemokratie ist also nicht ein einzelfall, sondern gut eingebettet in den gesellschaftlichen verfall jeglicher solidaritätskultur. politische embleme von parteien und institutionen sind augenscheinlich mindestens so hohl wie jene blechdosen, in denen mal dies und mal jenes gesöff gefüllt wird. gewerkschaften werden von dietrich mateschitz als lahme nostalgievereine vorgeführt.

dass sich die mitarbeiter_innen zu einem devoten bittschreiben hinreissen liessen, darf ihnen nicht zum vorwurf gemacht werden. wer kann schon sagen, was sie oder er tun würden, wenn die existenz plötzlich bedroht ist. dass es zu diesem schreiben kommen musste, das ist eine schamlosigkeit, die dem obersten herrscher im bullenreich anzulasten ist.

für die zweihundertfünfzig mitarbeiter_innen ist die geschichte nur scheinbar gut ausgegangen. die erniedrigung, die ihnen öffentlich zugemutet wurde, dürfte noch einige folgen haben. zumindest psychosomatisch im system des unternehmens.

die kritik an dietrich mateschitz ist verhalten und auffällig leise. während solche vorgänge noch vor wenigen jahrzehnten ein politisches beben der gröberen art nach sich gezogen hätten, dienen sich nun alle bei dietrich mateschitz an. die einen offen und laut, die anderen zumindest dadurch, dass sie die klappe halten, obwohl es ihre aufgabe wäre, gegen solches umspringen mit menschen einspruch zu erheben. aber zuviele erhoffen sich doch noch irgendwann einmal selbst in den genuss des dosenreiches zu kommen. und das macht viele stumm.

red bull stutzt die flügel.

 ps. dass die verballhornung der arbeitnehmer_innenrechte ausgerechnet unmittelbar nach dem 1.mai stattfand, ist vermutlich wirklich nur zufall.

dieser artikel ist heute auch auf derstandard.at erschienen.

_______
bild: psychopyko cc licence by nc nd