wirtschaft oder menschenleben? (#corona #13)

im grossen und ganzen war die entwicklung in den letzten wochen durchaus erstaunlich. dass ausgerechnet die – ihrem selbstverständnis nach – „wirtschaftpartei“ den weitreichenden lockdown veranlasst, war bemerkenswert. der menschenverachtenden diskussion, was denn mehr wert sei, das leben von menschen oder der umsatz von betrieben, wären wir beinahe erhobenen hauptes entkommen. wären.

dass ausgerechnet ein leiter der abteilung für allgemein- und familienmedizin an der meduni wien nun medial in deutschland und österreich aktiv wird und die strikten anweisungen als „irre, was wir da machen“ bezeichnet, ist erschütternd.

einer, der – zumindest der form nach – dem hippokratischen eid verpflichtet sein sollte, fängt nun allen ernstes damit an, die „kollateralschäden für die wirtschaft“ ins treffen zu führen und fordert ein ende u.a. des schulstopps nach ostern. (zib 2 vom 2.4.2020)

dabei fehlt auch nicht der versteckte appell, dass schon darüber nachzudenken wäre, ob denn alte menschen nicht ohnehin abzutreten hätten. der allgemeinmediziner erwähnt dabei emotionsbefreit (im interview mit der presse) seine 90jährige mutter, die sich längst damit abgefunden hätte „ihr leben gelebt zu haben“.

ja, es stimmt, das leben geht für uns alle mal zu ende. und auch ja, es wird immer eine ethische frage sein, welche medizinischen massnahmen wann und in welcher form vertretbar, unverzichtbar oder eben auch nicht angebracht sind. natürlich gibt es diskussionen über aufwendigste operationen an eigentlich nicht mehr wirklich lebensfähigen krebskranken, über hubschraubereinsätze zu altenheimen bei herzstillstand oder tatsächlich eineinhalb stunden reanimation bei einem definitiv schwer herzgeschädigten menschen. doch für diese fälle gibt es eine unmissverständliche lösung: wer nicht mehr behandelt werden möchte, der kann auf das instrument der patientenverfügung zurückgreifen.

aber die gewissheit, dass ein*e ärztin / arzt alles menschenmögliche zu tun bereit ist, wenn es darum geht, menschenleben zu retten, diese gewissheit muss unbedingt die grundlage unserer medizinischen versorgung bleiben. sobald jedoch ein*e mediziner*in auch nur in den verdacht gerät, volkswirtschaftliche überlegungen könnten in die behandlungsplanung einfliessen, ist das einfach untragbar. eine ärztliche verfügung auf basis von wirtschaftsüberlegungen ist ein nogo und widerspricht einem humanistischen menschenbild.

„es ist verantwortungslos, über menschenleben so zu sprechen“, entgegnet gesundheitsminister anschober den aussagen des mediziners. anschober hat wenig verständnis dafür, dass offensichtlich das bisher kaum in frage gestellte ziel der regierung „das leben von 10.000en menschen zu retten“ und einen kollaps des gesundheitssystems zu verhindern torpetiert wird. nicht von irgendwem, sondern einem leitenden mediziner der meduni wien.

tatsächlich ist es nicht hinnehmbar, dass ein arzt, der nicht nur leiter der abteilung für allgemein- und familienmedizin an der meduni wien und damit auch lehrender ist, sondern auch in salzburg ordiniert, offensichtlich interessen der wirtschaft gegen das individuelle menschenrecht des erhalts des lebens auszuspielen versucht.

ein*e ärztin/arzt, die/der leben erhalten will, solange es sich rechnet und nicht so lange es dem willen der patient*innen entspricht (und u.u. auch darüber hinaus), sollte keine ärztliche verantwortung mehr innehaben und auch nicht die neue generation der jungen ärzt*innen unterrichten.

corona macht offensichtlich vieles sichtbar, das wir in dieser deutlichkeit so noch nicht wahrgenommen haben: wer die bilder des verzweifelten medizinischen peronals in italien und spanien gesehen hat, das in tränen ausbricht, weil sie es für unmenschlich halten, entscheiden zu müssen, wen sie sterben lassen, wird an der dramatik der lage nicht zweifeln können und dankbar sein, dass in unserem und vielen anderen ländern heftige massnahmen ergriffen werden.

offensichtlich kämen andere nicht in diese emotionelle not, sondern würden sogar noch die eigene mutter abtreten lassen. sie hat ihr leben gelebt.

die entscheidungfrage, die niemals eine sein darf heisst daher:
wirtschaft oder menschenleben?

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bild: orf screenshot

Autor: bernhardjenny

kommunikationsgestalter meine unternehmen: jennycolombo.com, conSalis.at blogger, medienkünstler, autor, erwachsenenbildner salzburg - wien

11 Kommentare zu „wirtschaft oder menschenleben? (#corona #13)“

    1. Nein, das darf nicht sein.
      Aber ist es nicht legitim, wenn ich bestimme und sage: ich möchte nicht zu den ÄrztInnen ins Spital gebracht werden, die alles machen, um mein Leben zu retten?
      Solch eine Entscheidung sollte man aber auch nicht nur einmal treffen, und dann Jahrzehnte lang in einer Schublade belassen, sondern sie regelmäßig – am besten am Tag nach dem Geburtstag – überprüfen und (wenn noch aktuell) erneuern. Den Tag nach dem Geburtstag vergisst niemand und er bedeutet auch Dankbarkeit, auch nach diesem Lebensjahr noch imstande zu sein, über seine Entscheidung nachzudenken.

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  1. Ich denke, dass sehr oft Menschenleben nur deshalb „gerettet“ werden, weil es ein Riesengeschäft ist. Die Pharmakonzerne legen Produkte auf den Tisch, die Ärzte „vermarkten“ diese, die Allgemeinheit zahlt. Das bedeutet, wir haben die Moral schon längst „an der Garderobe abgegeben“, wie dieser Sönnichsen schreibt! Ich bin erschüttert, aber es wundert mich nicht.

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  2. gerade übermittelt bekommen:
    „Humanismus und menschliche Zuwendung soll und darf keine Grenzen haben. Wenn wir anfangen würden, das zu tun, würden wir eine Spaltung bei unserer eigenen Bevölkerung bekommen, wer eine solche Behandlung verdient und wer nicht. Und lassen Sie mich ganz klar sagen, eine solche Diskussion lehnen wir ab. Alle Menschen, die in unserer Betreuung sind, haben das gleiche Recht auf adäquate Betreuung.“ Sagt Univ.Prof. Richard Greil, Leiter des COVID-19-Krisenstabs am Uniklinikum Salzburg.
    https://salk.at/videostreams.html

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  3. die meduni wien hat gestern via twitter verlautbart:

    „ In den vergangenen Tagen wurde Andreas Sönnichsen vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien in einigen österreichischen Medien mit Aussagen zu den getroffenen Maßnahmen im Zuge der aktuellen Corona-Pandemie zitiert. Die Medizinische Universität Wien distanziert sich als Institution ausdrücklich von diesen Aussagen, die ausschließlich die persönliche Meinung von Andreas Sönnichsen widerspiegeln und keineswegs der offiziellen Haltung der Universität in dieser Thematik entsprechen. Wir möchten gleichzeitig festhalten, dass es im Wissenschaftsbetrieb grundsätzlich der akademischen Freiheit entspricht, dass einzelne WissenschafterInnen einer Universität persönliche Meinungen artikulieren.“

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