offener brief an josé manuel barroso, präsident der europäischen kommission
sie wissen sicher besser als ich, wieviele menschen bis jetzt im wassergraben der europäischen union ertrunken sind. mir ist bekannt, dass es viele tausend sind, die im laufe der letzten jahre umgekommen sind, aber ihnen liegen mit sicherheit auch der öffentlichkeit noch nicht genannte schätzungen über die dunkelziffer vor. wie zum beispiele über jene, die es selbst als leiche nicht bis an ein ufer schaffen.
einen traurigen höhepunkt hat die öffentliche aufmerksamkeit im zusammenhang mit der katastrophe von lampedusa anfang des monats bewirkt, viele – so auch ich – glaubten naiv an einen endgültigen anlass zum umdenken und daher zu einer umkehr in europas politik.
leider was das gegenteil der fall. zwar konnte ich in verschiedenen berichten ihren persönlichen schrecken angesichts der vielen särge sehen, trotzdem wurde aber die tödliche „grenzsicherung“ europas nicht nur nicht geändert, sondern deren absolute verschärfung beschlossen. die high-tech überwachung, die ohnehin längst stattfindet, soll nun legalisiert werden.
es steht zu befürchten, dass das – auch in diesen tagen nicht zum ersten mal bekanntgewordene – abdrängen von flüchtlingsbooten auf dem offenen meer noch viel perfekter und besser durch offizielle positionen der verantwortlichen in der EU gedeckt wird.
letztlich wird der sichere tod vieler tausender menschen beschlossen, sie sollen nur so weit draussen ertrinken, dass ihre leiche entweder an keiner küste angeschwemmt wird oder wenn, dann an einer afrikanischen.
angesichts der tatsache, dass die verzweiflung der menschen aus vielen regionen afrikas und des nahen ostens kein ende haben wird, lässt sich also feststellen: das sterben wird weitergehen. die festung europa schützt sich auf kosten von menschenleben.
hier wird sehr konkret sichtbar, was in anderen zusammenhängen schwerer dokumentierbar ist: unser luxus, unsere „sicherheit“ und unser system bringt menschen um. innen und aussen. im falle der verzweifelten boat people an der grenze europas.
ich kann mir die beschlüsse zum programm „eurosur“ und die erweiterten lizenzen für die agentur „frontex“ nur damit erklären, dass sie und viele der politisch verantwortlichen wissentlich die toten in kauf nehmen. sie sind der preis für unsere wohlstandssicherung.
ich könnte viele fragen aufwerfen, es gäbe sehr viel zu diskutieren, will mich aber in diesem ersten offenen brief beschränken. ich möchte eine antwort auf folgende frage:
wie hoch ist der preis, den sie für vertretbar halten?
wieviele tote an europas aussengrenzen sind drin?
bei welcher gesamtzahl von toten würden sie ein umdenken einfordern?
wieviele tote an unseren aussengrenzen würden in ihren augen ein nicht hinnehmbares verbrechen europas bedeuten?
herr präsident, nennen sie mir ihre zahl!
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