#brexit ist viel mehr

warum es nicht demokratisch wäre, das eu-referendum zu wiederholen und warum es ein neues politisches betriebssystem braucht

#brexit. die spontanen emotionen sind gleich mal hochgegangen. heftige kraftausdrücke kommen einem nicht nur in den sinn, sondern sprudeln unkontrollierbar heraus. verdammte sch…! was soll denn das? „die“ wollen doch aus der union austreten? wieso denn das? manche reaktionen waren trotzig, manche rachsüchtig, betroffen, beleidigt. wie nach einer unerwarteten scheidung. oder besser, wie wenn man plötzlich entdecken muss, dass der partner, die partnerin schon ausgezogen ist. vorwürfe über vorwürfe. und entsetzen.

und schnell war da auch der versuch der verdrängung. das könne es wohl nicht sein. das referendum müsse wiederholt werden. schließlich gehe es um viel mehr. ehrlich? wäre es demokratisch, wenn jemand (wer auch immer) festlegt, was als „richtiges“ ergebnis oder als „falsches“ zu gelten hat? ja, es ist verdammte sch…! aber vielleicht auch eine chance. das brexit-ergebnis sollte genau gelesen und verstanden werden – gegen allen emotionalen widerstand.

gigantische verärgerung

es gibt eine gigantische verärgerung in weiten teilen der bevölkerung. einen tiefsitzenden frust über das politische unvermögen jener, die eigentlich dafür gewählt werden, politik aktiv und zum wohle aller zu gestalten. spätestens seit der rettung von banken anstelle der rettung von menschen aus ihrer notlage, und der sich täglich ereignenden umverteilung von unten nach oben erfahren zu viele menschen, dass das, was sich politik nennt, in seltenen fällen die menschen meint, viel öfter aber die lobbys und ohnehin mächtigen bedient. soziale sicherheiten und strukturen werden immer dünner, die superreichen immer reicher. der frust, die verletztheit sitzt tief. manche können es nicht einmal genau beschreiben, aber sie fühlen sich permanent als verlierende in einem system, in dem immer andere gewinnen.

dies bringt die menschen dazu, reflexartig gegen alles zu stimmen, was nach dem bisherigen system riecht. egal ob sie hundsdorfer, khol, van der bellen, cameron oder sonst wie heißen, wer einmal im system politisch verantwortlich war oder dieses zumindest nicht komplett umstoßen möchte, wird abgestraft. die alternativen sind ausschließlich deshalb attraktiv, weil sie eines versprechen: das aktuelle system zu stürzen, koste es was es wolle.

solidarität und freiheit

brexit ist also der versuch, auszusteigen. damit ist nicht nur jene eu gemeint, die sich um uhudler-zulassungen mehr zu kümmern scheint, als um soziale gerechtigkeit, es ist ein ganzes system gemeint, das längst als unrechtssystem rundweg abgelehnt wird. es wird nicht genügen, untalentierte systemverwalter gegen sympathische auszutauschen, es wird nicht genügen, den populistischen forderungen der rechten im voraus genüge zu tun, bloß um das system zu erhalten.

es bräuchte einen wirklichen neustart, besser noch, einen betriebssystemwechsel. brexit zwingt jetzt manche, zumindest darüber nachzudenken. aber die reflexe des durchtauchens und verdrängens sind heftig. systemerhalt ist machterhalt. die reichen werden nicht freiwillig den armen ein gerechteres system liefern. brexit könnte letztlich wieder nur gegen die „kleinen“ ausgehen, während jene, die sich alles richten können, wieder reicher werden. brexit ist die ablehnung des aktuellen betriebssystems. dass weit und breit in der politischen landschaft nirgendwo ein neues betriebssystem erkennbar wird, ist traurig. solidarität und freiheit ist anscheinend verlernt. es ist an der zeit, echte, lauffähige betriebssysteme zu entwickeln und zu implementieren. denn der absturz des derzeitigen hat bereits begonnen. brexit ist viel mehr. (bernhard jenny, derstandard.at, 1.7.2016)

muss europa bulgarien werden?

best practice? ein ministerpräsident tritt zurück. mit dem satz „es ist das volk, das uns an die macht brachte, und wir geben sie ihm heute zurück.“ menschen waren in bulgarien auf die strasse gegangen, weil sie sich nicht wegsparen lassen wollen. und die proteste waren erfolgreich. geht doch.

die armut in europa wächst. in vielen ländern haben menschen von heute auf morgen ihre jobs verloren, junge menschen bekommen nach ihrer ausbildung oder nach ihrem studium erst gar keinen arbeitsplatz, menschen werden aus ihren häusern delogiert und vertrieben, schulden werden dennoch nicht erlassen, menschen bringen sich aus verzweiflung um.

demonstration gegen die kürzungen im bildungswesen sevilla foto: bernhard jenny

auch griechenland, spanien, portugal, italien, rumänien sind schauplätze zahlreicher proteste. das system der ausbeutung der kleinen bleibt dennoch vorerst stabil. selbst wenn zb ein spanischer ministerpräsident rajoy im korruptionssumpf bis zur unterlippe versinkt, er kann sich immer noch auf die legitimation durch die letzten wahlen berufen und mit einer absoluten mehrheit im parlament alles abwürgen, was nach aufklärung riecht. ein sturz der regierung würde auch nur ratlosigkeit auslösen, denn für eine echte umkehr scheint keine partei zu stehen.

was nun in bulgarien scheinbar gelungen ist, wird allerdings nur dann zu einem wirklichen erfolg führen, wenn systemalternativen angedacht werden. was nützt es schon, mal die eine oder die andere parteifarbe an die macht zu wählen, wenn sich das system selbst nicht ändert.

die politik der unzähligen milliarden für einen „rettungsschirm“, der die banken rettet, aber die menschen in die armut treibt, verbunden mit dem spardiktat der grossinquisitorInnen merkel und schäuble ruiniert nicht nur die wirtschaft in zahlreichen ländern, sondern wirft europa in ein neues mittelalter.

alternativlos ist zwar das unwort des jahrzehnts, es bringt aber leider nur zu genau die situation in europa auf den punkt. wir sind alternativlos. wir haben keine vision von einem anderen, gerechteren, sozialeren europa. wir wählen bloss immer wieder die eine oder andere oberflächenfarbe für das eine einzige system, das wir längst in unseren köpfen alternativlos abgespeichert haben.

ein regierungswechsel ist nicht die lösung. ist zu wenig. frankreich hat das in beeindruckender form bewiesen. gegen die erdrückende umarmung einer angela ist eben noch kein kraut gewachsen. selbst das scheinbare aufbegehren eines britischen ministerpräsidenten ist letztlich nur ein wahltaktisches manöver. aber immer innerhalb des alternativlosen sumpfes.

das vertreiben von regierungen hat sinn, wenn eine echte alternative angestrebt werden kann. bloss um nur die tarnfarben des alternativlosen systems auszutauschen, dazu brauchen wir keine pseudorevolutionen.

europa könnte als grosser, faszinierender, alle bereichender und offener kulturraum verstanden werden, der in der lage ist, allen menschen ein leben in frieden und sozialer sicherheit zu ermöglichen. europa könnte vielfalt leben und alle am gestaltungsprozess einer modernen gesellschaft partizpieren lassen.

wie eng muss es noch werden, damit wir das alternativlose system über bord werden um endlich zu gestalten? wie lange noch wollen wir den rechten kleingeistern in die hände arbeiten, in dem wir die vision durch die alternativlosigkeit verraten lassen? wie schlimm muss die lage werden, damit wir europa neu denken?

muss europa bulgarien werden?

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