lahme politik – lahme institutionen

die sozialen medien hingegen sind nicht nur sozial, sondern auch schnell

ein phänomen begleitet das drama um die vor krieg und tod flüchtenden menschen in ganz europa: ob die versorgung mit essen, getränken und hygieneartikeln oder skandalöse übergriffe der behörden wie zuletzt in ungarn: die politik ist gelähmt, die institutionen sind langsam, alles dauert ewigkeiten.

ein nicht zu unterschätzender faktor sind dabei die sogenannten sozialen medien. diese leiten informationen wesentlich schneller weiter, als sich das die traditionellen großinstitutionen und verantwortlichen vorstellen können.

freiwillige zur stelle

beispiel salzburg, 31. august. am nachmittag gegen 15 uhr sendet der grüne europaabgeordnete michel reimon einen tweet mit der info, dass ein mit flüchtlingen überfüllter railjet von wien nach münchen unterwegs ist. innerhalb kürzester zeit haben zuerst etwa 15, später noch viel mehr freiwillige helferinnen und helfer wasser, brot und babynahrung sowie windeln zum salzburger bahnhof gebracht und in den railjet nach münchen gereicht. schnell war klar, dass es so weitergehen wird, also wurde auch für die weiteren züge entsprechend hilfe vorbereitet.

nach auskunft des einsatzleitenden magistratsdirektors martin floss erfuhr die bezirksverwaltung erst um 20.36 uhr von den umständen auf dem salzburger bahnhof, der großteil der helferinnen und helfer des roten kreuzes wurde erst um 1 uhr früh per sms alarmiert. zu einem zeitpunkt, als bereits mehr als hundert private helferinnen und helfer mit massiver unterstützung der öbb für die 1.500 menschen im hauptbahnhof salzburg gesorgt hatten.

fazit: der großalarm der traditionellen hilforganisation wird zehn stunden nach der erstinformation über twitter und facebook ausgelöst. die sozialen medien sind also nicht nur sozial, sondern auch schnell. zu schnell für politik und institutionen, scheint es.

ereignisse in echtzeit

beispiel bicske, 3. september. die ungarischen behörden locken flüchtlinge in einen zug. sie glauben, damit nach westeuropa weiterreisen zu können. der zug wird jedoch in bicske gestoppt, die menschen sollen in ein lager gezwungen werden. was sich dann abspielt, ist kaum vorstellbar. in brütender hitze müssen menschen im zug ausharren, tränengas wird eingesetzt, die presse wird verjagt.

wieder sind es die infos über twitter und facebook, die eine große zahl interessierter in österreich verfolgen, wieder weiß man von direkt aus dem zug oder in der nähe des zuges twitternden menschen über die lage bescheid. doch die österreichischen behörden sind still. eine sofortige diplomatische intervention unserer regierung in richtung ungarn, ein öffentliches auftreten des kanzlers mit der klaren botschaft, dass eine zwangsanhaltung von flüchtenden menschen in zügen oder lagern nicht akzeptabel sei, ein umgehendes offizielles entsenden einer delegation, die sowohl hilfe als auch konkrete verhandlungen mit den ungarischen behörden aufnimmt, das wären mögliche rasche reaktionen gewesen. aber so schnell passiert einmal gar nichts.

fazit: eine große anzahl internetaffiner menschen erfährt praktisch in echtzeit von menschenrechtsverletzungen. für alle menschen, und daher für flüchtende menschen im besonderen, gilt sowohl das recht auf freiheit und sicherheit (artikel 5 menschenrechtskonvention) als auch das verbot von folter (artikel 3). daher sind sowohl das abdrängen als auch das in-die-irre-führen, das zwangsanhalten in lagern, das festhalten in überhitzten zügen und der einsatz von tränengasspray gegen flüchtlinge nicht hinzunehmen. die traditionellen strukturen von regierung, parteien und behörden haben noch nicht einmal die reaktionen überlegt, geschweige den kleinen finger gerührt. die sozialen medien sind schon wieder zu schnell.

es wird zeit, dass die entscheidungsträgerinnen und entscheidungsträger endlich ihr tempo dem leben in echtzeit anpassen und handeln. jetzt. nicht übermorgen. (bernhard jenny, derstandard.at, 4.9.2015)

in traiskirchen geht österreich vor die hunde

es braucht menschlichere fantasien – und eine grundsätzliche erneuerung der politischen landschaft

„die menschen hier haben es nicht leicht“, sagt ein sichtlich ratloser bundespräsident nach einem besuch des humanitären katastrophenortes traiskirchen. er hält es schon für einen erfolg, dass die regierungsspitze, bundeskanzler werner faymann, vizekanzler reinhold mitterlehner und die hauptverantwortliche für das desaster, innenministerin johanna mikl-leitner, ihn dorthin begleiten.

„die menschen hier haben es nicht leicht.“ das ist zu wenig – beschämend zu wenig! wenn angesichts des unglaublichen versagens oder zynischen zulassens von unannehmbaren zuständen dem bundespräsidenten, dem bundeskanzler, dem vizekanzler und der innenministerin nicht mehr über die lippen kommt, dann ist das eine endgültige bankrotterklärung der staatsführung.

gefährliches herumeiern

das ist nicht nur beschämend, sondern auch ernüchternd. und sehr gefährlich. weil jenen kräften hilflos zugespielt wird, die aus dem chaos kapital schlagen. und das könnte in einer politisch finsteren nacht enden. wie absurd würden dann diese ratlosigkeit, untätigkeit, dieses herumeiern und diese unfähigkeit im nachhinein erscheinen? es wird dann zu spät sein, es sich nochmals anders zu überlegen.

große und kleine bankrotterklärung

wir brauchen eine sehr grundsätzliche erneuerung der politischen landschaft. denn in (fast) jeder politischen partei gibt es längst menschen, die sich nicht mehr mit der aktuellen situation abfinden möchten. auch die övp hat ihre andreas bablers. diese erneuerungskräfte und auch solche aus der „freien“ engagierten szene sollten die gelegenheit bekommen, den lähmenden, inhumanen zustand zu ändern. in unserem land gibt es mehr und menschlichere fantasien, als nur menschen in lager zu sperren und dort verkommen zu lassen.

dass sogar die grünen einfach die durchgriffsmöglichkeit des bundes bei der unterbringung von asylwerber_innen absegnen – ohne konkrete maßnahmen davor, währenddessen und danach verbindlich einzufordern –, ist die kleine bankrotterklärung im einklang mit der grossen.

kaum jemand scheint zu verstehen, wie ernst die lage ist.

in traiskirchen geht österreich vor die hunde.

(bernhard jenny, derstandard.at, 19.8.2015)

„grenzmanagement“ der EU: kein pakt mit diktatoren und despoten

die menschenrechte sind das testament jener millionen, die schon einmal in europa aussortiert wurden

das selektieren von menschen nach hautfarbe, das transportieren solcher herausgefilterter in geschlossenen waggons, das verbieten des betretens von bahnhöfen – wer hätte sich das noch vor zehn jahren mitten in europa vorstellen können? dennoch ist es laut medienberichten in der eu – in ungarn – geschehen. menschen werden wieder sortiert, in solche und solche. klassenunterschiede reichen zur beschreibung des unterschieds wohl nicht aus. da ist viel mehr unterschied. so einer wie zwischen „herrenmenschen“ und „untermenschen“.

aber das ist längst noch nicht alles: die eu plant offensichtlich die ernsthafte kooperation mit afrikanischen diktaturen, damit diese flüchtende menschen erst gar nicht aus ihren ländern lassen. eritrea und sudan sind plötzlich ernsthafte ansprechpartner in sachen „migrationsmanagement“ beziehungsweise „grenzmanagement“. laut einem bericht des ard-magazins „monitor“ soll in kairo eine polizeiakademie eingerichtet werden, die die exekutiveinheiten der diktaturen „entsprechend“ ausbilden.

paktfähige partner?

die eu-verantwortlichen machen dabei die augen zu. sind die grausamsten despoten und korruptesten diktatoren plötzlich paktfähige partner für die europäische union? „wir sind uns der tatsache bewusst, dass wir es dabei mit autoritären regimen zu tun haben, mit diktaturen. aber sie bekommen von uns keine politische oder demokratische legitimation. wir konfrontieren sie nur mit ihrer verantwortung“, sagt eu-migrationskommissar dimitris avramopoulos dem ard-magazin.

geschichte mahnt

vergleiche mit der zeit des holocausts wollen gut überlegt sein. aber stellen wir uns einmal vor, die vereinigten staaten hätten vor jahrzehnten angesichts der zahlreichen flüchtlinge aus europa mit hitler verhandelt, effizienter im „grenzmanagement“ des deutschen reiches zu werden, und dafür deutsche nazitruppen speziell geschult, wie sie den flüchtenden gar keine chance lassen.

menschenrechte sind unteilbar. und sie gelten für alle menschen dieser welt in gleichem maße. ob es uns gefällt oder nicht, ob es sich budgetverwaltungen leisten wollen oder nicht. menschen sind menschen – immer und überall. das ist für viele offensichtlich ganz schwer zu verstehen und noch weniger zu verkraften.

der letzte wille von millionen

die menschenrechte sind das testament jener millionen, die schon einmal in europa aussortiert wurden. europa tut gut daran, diesem millionenfachen letzten willen zu folgen. nur die unbedingte achtung der menschenrechte für alle kann leitfaden in der bewältigung der aktuellen herausforderungen sein.

niemand hat das recht, menschen zu sortieren, auszulagern oder allein wegen ihrer herkunft zu kriminalisieren. auch das auslagern von menschen, sei es in flüchtlingscamps innerhalb oder in solchen außerhalb europas, wird niemals näher zur lösung führen. der tod von menschen – ob in den herkunftsländern, den transitländern, im meer, an grenzzäunen oder innerhalb europas – darf niemals politisches kalkül und verhandlungspunkt werden. (bernhard jenny, derstandard, 7.8.2015)

das netz ist nicht schuld.

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die haltung, die aus menschenverachtenden postings spricht, entsteht nicht durch das medium

immer wenn es um sogenannte randgruppen oder „heiße themen“ geht, dann entgleisen grundsätzlich die mehr oder weniger moderierten foren. egal ob es um armutsreisende (vulgo bettler_innen), roma und sinti (vulgo zigeuner_innen), willkommene (vulgo flüchtlinge), obdachlose, griech_innen oder deutsche geht. das bashing ist immer und überall.

spitzen des eisberges werden dann nachlesbar in plattformen, die sich dem aufdecken von rassismus, hetze und diskriminierung verschrieben haben, wie zum beispiel eau de strache.

viel zu oft wird hier das internet als das netz des bösen ins spiel gebracht. wie wenn völlig harmlose menschen, vielleicht gar leicht humanistisch geprägt, allein durch die tatsache, dass sie laufend das netz nutzen, zu geifernden rassistinnen und rassisten, ausschweifenden hetzerinnen und hetzern und minderheiten diskriminierenden aktivistinnen und aktivisten würden.

haltung der menschen

hier wird wohl was verwechselt: das medium hat mit sicherheit auswirkungen auf diverse kommunikationsverhalten, auf die reaktionszeiten, auf die spontaneität, auf so manche unüberlegtheit. aber die haltung, die aus den menschen spricht, entsteht nicht (nur) durch das medium. haltung hat mit achtsamkeit und würde zu tun. haltung ist das ergebnis einer bewussten position in dieser welt.

vielleicht ist das tempo des austausches, die zahl der schnellen impulse, die mediale reizüberflutung und das verarbeiten all dessen neu. aber die xenophobie, das entstehen von hass auf fremde, angst vor armen und rassistischen fantasien ist kein ergebnis des netzes. es ist ergebnis unserer haltung. und hier haben wir viel verlernt.

wofür das netz sorgt

wofür sehr wohl das netz sorgt: wir erfahren öfter und schneller von meinungen, ausbrüchen und entgleisungen. mag sein, dass dabei die hemmschwelle bei manchen leichter fällt.

es ist nicht notwendig, hier exemplarisch derartige entgleisungen zu wiederholen. es ist aber notwendig, gegen die verrohung unserer kommunikation aufzustehen. ob auf facebook, im forum oder auf offener straße. eine haltung muss her. eine haltung, die uns wieder zu einem humanen umgang miteinander verpflichtet.

fremdenhass, rassismus, stumpfer nationalismus

es geht nicht um die alltägliche beschimpfung in hitzigen diskussionen. es geht nicht um eine lässige umgangssprache mit deftigen schimpfwörtern. es geht um das bild, das manche von menschen zeichnen und damit durchkommen. es geht um den unverblümten fremdenhass, blinden rassismus und stumpfen nationalismus. dagegen könnte auch ein klares auftreten im netz helfen.

mit einem verantwortungsvollen bewusstsein dürfen wir nicht zulassen, dass menschen allein schon durch die art und weise, wie sie benannt werden, verächtlich gemacht, erniedrigt werden. dieses bewusstsein können wir nur gemeinsam fördern und einfordern. auch im netz.

denn diskriminierung ist niemals und nirgendwo okay.

und
das netz ist nicht schuld.

(bernhard jenny, derstandard.at, 21.7.2015)

 

willkommene werden bewusst im stich gelassen

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diese lage in österreich ist nicht nur unbefriedigend, sie ist beschämend

in der nacht auf heute war es wieder so weit. die willkommenen (vulgo flüchtlinge) des salzburger zeltlagers mussten fluchtartig ihre notunterkünfte verlassen, weil ein unwetter die zelte aus den verankerungen zu reißen drohte. es ist nicht das erste mal, dass sich die aus not und elend zu uns geflüchteten und oft schwer traumatisierten menschen vor blitz, donner, starkregen und sturm in sicherheit bringen mussten.

juridisch in der schwebe gehalten

so wie diese menschen rein physisch in unzumutbaren zuständen hängengelassen werden, so werden sie auch juridisch in schwebe gehalten. besucher des zeltlagers berichten von hilfesuchenden, die nicht wissen, was sie tun sollen, um endlich einen asylantrag stellen zu können. denn das beaufsichtigende personal der schweizer privatgesellschaft ORS ist nicht für solche auskünfte oder gar antragsannahmen zuständig.

rechtlich zuständig wäre das bundesamt für fremdenwesen und asyl (BFA) in thalham, doch dort ist telefonisch nichts auszurichten. und selbst wenn es möglich wäre, dort hinzufahren, würden engagierte helfer_innen sicher nichts und die betroffenen kaum etwas erfahren, weil sie angesichts des ansturms bei dem zuständigen sachbearbeiter höchstwahrscheinlich nicht drankämen. so zumindest die auskunft aus dem innenministerium selbst.

beschämende lage

diese lage ist nicht nur unbefriedigend, sie ist beschämend. sie dient dem offensichtlichen ziel der innenministerin, möglichst viele negative bilder zu produzieren. die nachricht, die sich in aller welt verbreiten soll, lautet: in österreich ist kein platz. in österreich geht es vor not und elend geflüchteten menschen dreckig. in österreich müssen willkommene auf nacktem boden oder im freien übernachten, müssen im regenschlamm oder in brütender hitze ausharren, müssen kinder auf bänken auf offener straße übernachten, gibt es nicht genügend zu essen usw.

jede schlechte nachricht ist eine gute. die menschen in den kriegsgebieten sollen es von den fluchthelfer_innen erfahren: ja nicht nach österreich, da ist es schrecklich. deshalb steckt system hinter den zuständen in traiskirchen und außenlagern.

willkommene werden bewusst im stich gelassen.

(bernhard jenny, 8.7.2015 im derstandard.at)

anmerkung: hier findet der originaltitel verwendung „willkommene werden bewusst im stich gelassen“ anstelle der vom standard geänderten version „flüchtlinge werden bewusst im stich gelassen.“ ausserdem wird in diesem original auch das wort „willkommene“ NICHT unter anführungszeichen gesetzt. der artikel „flüchtlinge abschaffen!“ erklärt den hintergrund.

europäische union mit sehr beschränkter haftung.

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lebenschancen sind das spielgeld im krisenmonopoly
gebannte blicke auf zahlen. auf börsenkurse. auf prozente. auf zinsen. auf milliarden. auf geld. auf rechnerische größen. auf zahlenreihen.
gebannte blicke auf die player. von jedem kinderspielplatz wären sie längst geflogen, wenn sie sich dort so aufführen würden. respektlos. kratzen. beißen. treten. petzen. ich zertrete dir deinen sandhaufen. du pinkelst mir auf meinen.

unbeweglichkeit als programm
ist es nur eine fügung der geschichte, dass ausgerechnet zu jenem zeitpunkt, wo ein mitgliedsstaat der eu abgestraft werden soll, auch die frage der willkommenen ungeklärt auf den verhandlungstischen liegen geblieben ist? kann es als zeichen der politischen agonie verstanden werden, dass die unbeweglichkeit zum programm wird?
ist es wirklich ratlosigkeit? oder ist es bedingungsloses ausführen scheinbarer ökonomischer glaubensregeln? die fortsetzung der bankenrettung auf einem niveau, das nicht einmal vor dem ruin ganzer (souveräner?) länder zurückschreckt? geht es um prinzipien? oder das recht auf spekulationsgewinne ohne ende?

kein sandkastenspiel
vom „alles halb so wild“ bis zum möglichen zündfunken eines neuen weltkriegs ist der bogen der bewertungen dessen, was sich derzeit in europa abspielt denkbar weit gespannt.
eines steht aber jetzt schon fest: für die bildung junger menschen, für die pflege alter und kranker, für die altersversorgung und soziale sicherheit wird das geld abgesaugt. so oder so. entweder in die eine oder in die andere richtung.

krisenmonopoly
es wird heftig gestritten, wie das ganze schlamassel überhaupt passieren konnte. wer schuld an jenem raubzug ist, der sich krise nennt. aber egal wie es ausgeht: es gäbe genug leute – sowohl in griechenland, als auch in allen anderen ländern der eu – die unvorstellbar viel reichtum angehäuft haben. sie werden gelassen zusehen können, wie das spiel um den sandkasten ausgeht. sie werden sicher nicht zahlen müssen.

bezahlen müssen genau jene, die absolut keine schuld trifft: die kleinen, die, die ohnehin schon fast nichts haben. viele von ihnen werden es gar nicht merken, wie sehr sie zahlen: es wird eben keine entbindungsstation, kein pflegeheim, keine ärztin und keine schulen im ort geben. warum das so ist, werden viele gar nicht mitbekommen.

ihre lebenschancen sind das spielgeld im krisenmonopoly. menschen? kollateralschäden einer eumbh.

europäische union mit sehr beschränkter haftung.
(bernhard jenny, 30.6.2015 im standard.at)

warum wir sonderschulen abschaffen müssen

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bernhard jenny tritt für die abschaffung von sonderschulen ein und sieht inklusion als menschenrecht

gertraud zeilinger tritt in ihrem userkommentar für den erhalt der sonderschulen ein. und geht dabei von leider falschen bildern aus.

wenn sie beispielsweise meint, dass jemand mit zahnschmerzen auch zu einer zahnärztin geht und nicht zu einer allgemeinmedizinerin, so stimmt das. wenn jedoch die abschaffung von sonderschulen gefordert wird, ist nicht gemeint, dass das fachwissen, das für eine individuelle pädagogische betreuung von kindern (mit oder ohne den stempel „förderbedarf“) vonnöten ist, verschwinden soll. im gegenteil: dieses wissen (vulgo sonderpädagogik) sollte nicht abgeschafft, sondern in den normalablauf der schule eingebracht werden.

leider glaubt gertraud zeilinger, dass das, was sie früher als „eintopfklasse“ erleben und praktizieren musste, das vorbild für „inklusion“ wäre. da würde mir auch (wie sie über sich selbst berichtet) schlecht werden, wenn inklusion wirklich nichts anderes bedeutete, als einfach die unterschiedlichen dispositionen und bedürfnisse von kindern und jugendlichen zu ignorieren.

inklusion ist menschenrecht

als mitbegründer der ersten integrativen volks- und hauptschulen in salzburg habe ich das ganz anders erlebt. das ziel, allen kindern einen gemeinsamen zugang zum sozialen ort schule zu bieten und ihnen dabei auch jeweils ihren individuellen weg in der bildung anzubieten, trieb uns damals an, trotz vieler widerstände, diese projekte zu initiieren. seit damals sind viele jahre vergangen, wir sprechen mittlerweile von inklusion und meinen damit einen grundsätzlichen anspruch an unsere gesellschaft.

inklusion. nein, das ist keine option. inklusion ist menschenrecht. für alle.

es ist neben vielen anderen engagierten menschen in unserem land auch dem heutigen behindertenanwalt erwin buchinger zu verdanken, dass österreich die un-konvention über die rechte von menschen mit behinderungen ratifiziert hat. kein wunder also, dass diesem engagierten kämpfer für die inklusion langsam der kragen platzt. allerorts scheint der „sonderpädagogische förderbedarf“ (spf) zu fröhlichen urständ der sonderschulen zu führen. denn das „stigma“ spf wird in seinen augen leichtfertig verhängt, um den sonderklassen und sonderschulen eine finanzielle beziehungsweise personaltechnische absicherung zu geben. nicht berücksichtigt wird dabei, dass die betroffenen dadurch im wahrsten sinne des wortes „abgestempelt“ werden.

„modellregionen“ für inklusion

wenn ministerin gabriele heinisch-hosek kürzlich meinte, dass die „sonderschule bis 2020 zur ausnahme“ werden soll und ohnehin „modellregionen“ geplant seien, in denen flächendeckend inklusive bildung angeboten werden soll, dann klingt das für gelernte österreicher_innen wie die verschiebung auf den berühmten sankt-nimmerleins-tag.

wenn sechs jahre nach inkrafttreten der un-konvention über die rechte von menschen mit behinderungen erst an „modellregionen“ gedacht wird, klingt das eher beunruhigend, weil sehr verdächtig nach aussitzen und schwerfälligkeit des schulsystems.

würden wir „modellregionen“ auch bei anderen menschenrechten einrichten müssen, um zu sehen, ob und wie sich das umsetzen lässt? wie wäre es, wenn wir die steiermark oder vorarlberg zur „modellregion“ für meinungsfreiheit erklären, mal schauen, wie das funktioniert, während anderswo die freie meinung längst nicht geäußert werden dürfte?

es ist wirklich beschämend, wie wir uns vom „system“ lähmen lassen. das ist die schlimmste behinderung, weil wir sie selbst erzeugen und anderen zumuten. wer sonst ist das system, wenn nicht wir alle selbst?

neu anfangen

sonderschulen, sonderanstalten, sonderprogramme. schluss mit dem sortieren von menschen.

wir müssen das bestehende system vergessen und ganz neu anfangen. nicht umbauen, nicht testen, nicht adaptieren, sondern grundsätzliches erkennen: erkennen, dass alle menschen gleich sind und den gleichen zugang zu uns allen, also unserer gesellschaftlichen gemeinschaft, zur bildung und zu chancen und damit letztlich auch zu sich selbst haben müssen. alles andere ist längst nicht mehr tragbar. weder inner- noch außerhalb von „modellregionen“.

lisa nimmervoll fordert im standard: „die sonderschule gehört abgeschafft. 26. oktober ist nationalfeiertag, der neutralität gewidmet. inklusion ist nichts für neutrales sich-raushalten. es wäre ein schöner anlass, wenn die feiernde nation ein zeichen setzen würde, dass in diesem land alle menschen, egal ob „behindert“ oder nicht, reich oder arm, seit generationen ‚hiesig‘ oder immigriert, platz und die gleichen rechte und chancen haben. wir sind alle anders.“ sie spricht damit deutlich an, dass es schnell gehen muss. bis oktober wäre gerade noch zeit.

inklusion verträgt weder zeitlichen aufschub noch räumliche einschränkung. nur inklusion ist inklusion.
(bernhard jenny, derstandard.at, 12.9.2014)