die wogen gehen hoch. günter grass hat ein gedicht geschrieben. selten sind so schnell brandreden und nicht weniger brennende statements zu hören und nachzulesen. von „man müsste ihn auch noch für den friedensnobelpreis vorschlagen“ einerseits bis zur quasi sichtbaren „ss-uniform“ samt einreiseverbot israels andererseits – die extreme könnten weiter auseinander nicht liegen.
viele fragen haben mich seit der lektüre jenes gedichtes „was gesagt werden muss“ beschäftigt. etwa die, ob jede zeile, wenn sie eben ein literaturnobelpreisträger schreibt, per se dann auch schon ein gedicht ist. oder die andere, ob es legitim ist, an jemandes „vermächtnis“ gleich anstoss zu nehmen, ist es doch „mit letzter tinte“ geschrieben.
und es war und ist angenehm, dass fast stündlich neue reaktionen zu finden sind. eine angeregte, hitzige, engagierte, beherzte diskussion unter menschen aus verschiedensten lagern lässt zumindest darüber aufatmen, dass es im deutschen sprachraum auch noch politische auseinandersetzungen geben kann, die sich nicht auf „angela sagt, joachim meint auch“ reduzieren lassen.
ich war irritiert. zunächst versuchte ich den text nicht einfach nur einmal zu lesen, sondern ihm die, der literarischen gattung zugesprochene dichte abzuringen: im wieder und überprüfenden lesen, aufnehmen, innerlich antworten und fragen, um dann diese antworten und fragen wieder dem text entgegenzuspülen.
inzwischen ist meine irritation einem klaren bild gewichen:
schriftstellerInnen darf zugemutet werden, dass sie aus ihrer beruflichen haltung heraus wort für wort und satz für satz abwägen und deren wirkung, deren potential, deren kraft in der rezeption antizipieren können. dies gilt gerade bei der gedichtform noch viel mehr als bei eher freieren formen, die auch von schnell dahingeschriebenem ihre dynamik erhalten.
dass günter grass seinen kurzen gedichttext innerhalb weniger tage lieber anders formuliert haben wollte, hätte er nur gewusst, wie die worte wirken, kann ich einem vollprofi so nicht abnehmen.
als intellektueller seines kulturkreises muss grass wissen, was mit einem stammtischtitel „was gesagt werden muss“, falschen rollenumkehrungen und schuldzuweisungen passiert. und: es stimmt einfach nicht, dass grass oder sonst jemand bis jetzt hätte schweigen müssen, aus welchen gründen auch immer. diejenigen, die sich seit 1945 aufregen, dass sie nicht alles laut sagen dürfen, sind jene, die das unrecht und verbrechen der nationalsozialisten nicht zugeben oder nicht einsehen wollen. will sich grass wirklich diesen ewiggestrigen anschliessen?
die friedenspolitische lage in israel und den benachbarten regionen und staaten ist eine riesige brennende wunde. jede einfache darstellung als konflikt zwischen zwei seiten, den einen und den anderen, würde der historischen, kulturellen, religiösen und politischen dimension der lage nicht gerecht. dennoch glaube ich, dass auch hier – wie in jeder anderen kriegsschwangeren lage der welt – es die verantwortung aller, also der ganzen welt sein muss, mit allen mitteln für den frieden zu wirken.
wer in einem sich zuspitzenden und mit vitalen interessen verbundenen konflikt die täter-opfer-optik einfach mal umdreht, spielt das konfliktspiel auf unverantwortliche weise nur weiter. nichts wird dadurch gewonnen. zuweisungen und vorwürfe, heftige unterstellungen und ganz und gar nicht harmlose relativierungen bringen weder die konfliktparteien noch uns weiter. friedensarbeit geht anders.
selbst wenn wir die (nicht unbedeutende) frage ausser acht lassen wollten, inwieweit ein deutscher schriftsteller in sachen israel eine besondere moralische verantwortung hat oder nicht, ungeachtet auch der frage, ob ein deutscher schriftsteller eine „stimme von aussen“ sein kann oder in diesem falle immer auch eine involviertheit zu berücksichtigen hat, die intervention des grass´schen gedichtes geht daneben, weil sie nicht heraushilft, weil sie keine vision eröffnet und keine hoffnung möglicher macht, sondern im alten konfliktsprech weiter macht. das ist rückwärts gewandt, ohne perspektive. und wasser auf die mühlen jener, die noch immer nichts aus der geschichte gelernt haben.
günter grass hat mit seinem absolut unadäquaten reiz vielleicht dennoch auch positives bewirkt. er hat vielleicht manche zum nachdenken gebracht und erkennen lassen, dass wir genau den fehler, den grass mit diesem text macht, nicht wiederholen dürfen.
konflikte bedürfen einer viel grundsätzlicheren perspektivenänderung. dort, wo grass sich dem deutschen waffenexport entgegenwirft, kann ich ihm auch zustimmen. waffen haben noch nie einen konflikt gelöst. jede bombe, jede rakete, jeder sprengsatz ist eine niederlage für die menschheit, ob erstschlag, vergeltungsschlag, kriegsfortführung, autobombe, sprenggürtel oder alltagsterror.
es geht immer und überall um menschen und deren leben, die unabhängig davon, welcher nation, welcher religion oder welchem politischen lager sie zugeordnet werden, immer gleich viel wert sein müssen und auch niemals quantifiziert gegengerechnet werden können.
es gibt zahlreiche menschen in israel und im iran, die gegen einen krieg aufstehen oder dies zumindest wollten.
friedenswillen stärken, vernetzen, unterstützen und verbreiten wäre daher wesentlich wichtiger.
es gibt – wie barenboim sagt – keine alternative zum frieden, die frage ist nur, wie lange wir bis dahin noch brauchen.
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foto: copyright: das blaue sofa / club bertelsmann
Über ein triviales „Gedicht“ (Inhalt längst bekannt), das bestenfalls geeignet ist, von der eigentlichen Kriegsursache abzulenken, diskutiert die ganze Welt.
Doch ein wissenschaftlich einwandfreier Artikel, der den Kern des Problems anspricht, wird vom „Normalbürger“ gar nicht erst zur Kenntnis genommen:
Klicke, um auf krieg.pdf zuzugreifen
Wer die tiefere Ursache – nicht nur – für dieses irrationale Verhalten verstehen will, muss tatsächlich bei Adam und Eva anfangen:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2011/07/die-ruckkehr-ins-paradies.html
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„als intellektueller seines kulturkreises muss grass wissen, was mit einem stammtischtitel “was gesagt werden muss”, falschen rollenumkehrungen und schuldzuweisungen passiert.“ Dem stimme ich zu. Das ganze Theater war antizipiert. In der Tat zeigt Grass, wie es eben nicht geht!
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Einer der besten Kommentare zum Thema. Danke dir.
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Eine ketzerische Frage: wer dreht eigentlich an der ‚Täter-Opfer-Optik‘, Bernhard Jenny, und wer versucht, die Welt wieder auf ihre Füsse zu stellen? Ein Land mit 200 bis 300 Atombomben, das haben wir gerade wieder in der Sendung ‚Günther Jauch‘ am Sonntag erfahren, plant ganz konkret den Militärangriff auf ein Land, dass diese grauenhaften Bomben weder hat, noch daran baut, als angebliche ‚Verteidigung‘ nach dem Muster des Irak-Krieges. Deutschland liefert diesem Land U-Boote mit ausdrücklicher Betonung, dass sie mit Abschußrampen für Atombomben ausrüstbar sind. Das alles geschieht mit der an den Haaren herbeigezogenen Begründung, dass man im Iran gesagt hätte, Israel solle von der Landkarte verschwinden, was aber eine falsche Übersetzung sein soll. Ich spreche kein Farsi, aber wenn es um Kriegsdrohungen und um den Einsatz von Atombomben geht, brauche ich das nicht! Leben wir denn hier in einem Irrenhaus, wissen wir nicht, dass Deutschland der drittgrößte Exporteur von Waffen und Israel der drittgrößte Atomstaat der Welt sind? Israel gefährdet den Weltfrieden, sagte Günter Grass. Und damit er nun einmal Recht!
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Wie im Artikel gesagt wird: die Friedenswilligen brauchen Öffentlichkeit!
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