in traiskirchen geht österreich vor die hunde

es braucht menschlichere fantasien – und eine grundsätzliche erneuerung der politischen landschaft

„die menschen hier haben es nicht leicht“, sagt ein sichtlich ratloser bundespräsident nach einem besuch des humanitären katastrophenortes traiskirchen. er hält es schon für einen erfolg, dass die regierungsspitze, bundeskanzler werner faymann, vizekanzler reinhold mitterlehner und die hauptverantwortliche für das desaster, innenministerin johanna mikl-leitner, ihn dorthin begleiten.

„die menschen hier haben es nicht leicht.“ das ist zu wenig – beschämend zu wenig! wenn angesichts des unglaublichen versagens oder zynischen zulassens von unannehmbaren zuständen dem bundespräsidenten, dem bundeskanzler, dem vizekanzler und der innenministerin nicht mehr über die lippen kommt, dann ist das eine endgültige bankrotterklärung der staatsführung.

gefährliches herumeiern

das ist nicht nur beschämend, sondern auch ernüchternd. und sehr gefährlich. weil jenen kräften hilflos zugespielt wird, die aus dem chaos kapital schlagen. und das könnte in einer politisch finsteren nacht enden. wie absurd würden dann diese ratlosigkeit, untätigkeit, dieses herumeiern und diese unfähigkeit im nachhinein erscheinen? es wird dann zu spät sein, es sich nochmals anders zu überlegen.

große und kleine bankrotterklärung

wir brauchen eine sehr grundsätzliche erneuerung der politischen landschaft. denn in (fast) jeder politischen partei gibt es längst menschen, die sich nicht mehr mit der aktuellen situation abfinden möchten. auch die övp hat ihre andreas bablers. diese erneuerungskräfte und auch solche aus der „freien“ engagierten szene sollten die gelegenheit bekommen, den lähmenden, inhumanen zustand zu ändern. in unserem land gibt es mehr und menschlichere fantasien, als nur menschen in lager zu sperren und dort verkommen zu lassen.

dass sogar die grünen einfach die durchgriffsmöglichkeit des bundes bei der unterbringung von asylwerber_innen absegnen – ohne konkrete maßnahmen davor, währenddessen und danach verbindlich einzufordern –, ist die kleine bankrotterklärung im einklang mit der grossen.

kaum jemand scheint zu verstehen, wie ernst die lage ist.

in traiskirchen geht österreich vor die hunde.

(bernhard jenny, derstandard.at, 19.8.2015)

jubeln? nicht? vergessen?

70 jahre zweite republik. feierliche ansprachen. grosse gesten. ehrengäste. und dennoch will nicht so richtig feierstimmung aufkommen. irgendwie sind wir ermattet. müde. wir können sie fast nicht mehr hören, die einen und die anderen redner_innen. was ist los?

 

bild: guentherz creative commons licence by

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? selbstverständlich! grosser jubelschrei für die befreiung vom naziterror, grosser jubelschrei für das ende des holocaust, grosser jubelschrei für die überwindung des weltkrieges. grosser jubelschrei für den wiederbeginn einer welt, die aus dem grauen lernen will, lehren daraus ziehen will, bewusstsein sichern will.

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? natürlich nicht! wie sollten wir jubeln angesichts der tatsache, dass so vieles nicht geschafft, so vieles wieder verloren gegangen und so vieles ganz gehörig schief gegangen ist? jubeln ist nicht angebracht, angesichts der zunehmenden verteilungsungerechtigkeit, der wachsenden kapitalkonzentration und des ungebremsten aussaugens der bildungs- und sozialsysteme. und die toten an den aussengrenzen des kontinents, in anderen ländern, in anderen kontinenten – egal?

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? nun, jubelschrei vielleicht nicht, aber zufriedenheit, genügsamkeit oder gar etwas bescheidenheit würden uns gut tun. demut wäre angebracht, wenn wir bedenken, wie gut es uns eigentlich in unserem land im durchschnitt geht. dabei sollen nicht die verlierer_innen in unserem ungerechten system vergessen werden, aber es steht uns wahrlich nicht zu, in unserer situation zu jammern. wir sollten dankbarer sein. zu dieser dankbarkeit gehörte dann auch das ablegen von neid, gier und habsucht. zu dieser dankbarkeit gehörte eine offenheit, die menschen als solche annimmt, aufnimmt, unterstützt und sichert.

was sagen uns wohl jene menschen, die vor 70 jahren wieder neu angefangen haben, die erleben mussten, was hunger, lebensgefahr und diktatur bedeuten und fortan jedes stück brot und jede ruhige minute wertschätzen konnten? was sagen uns jene menschen, die vor 70 jahren es wagten, wieder ein leben aufzubauen?

versetzen wir uns nach 70 jahren in die ersten tage der „nachkriegszeit“ und überlegen wir doch mal für ein paar minuten, wo wir im vergleich dazu heute stehen. ja, es liegt vieles im argen, aber nein, wir haben kein recht, uns zu beklagen. unser reichtum und unsere sicherheit sind uns verantwortung.

und vergessen wir nicht, warum die grosse katastrophe überhaupt entstand. welche gewalten jene entfesseln konnten, die uns menschen in „richtige“ und „falsche“, in „lebenswerte“ und „unwerte“, in „gesund“ und „krank“ sortieren wollten.

jubeln? nicht? vergessen?

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dieser artikel ist am 28.4.2015 auf fischundfleisch.com erschienen und ist auch dort direkt aufrufbar.
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menschenrechte sind nichts für zwischendurch.

grafik bernhard jenny creative commons

der eine ruft zum boykott der putinspiele auf, der andere hält nichts davon. der joachim will ein „politisches zeichen“ setzen, der heinz meint, dass dem „anliegen der menschenrechte“ mit anderen mitteln besser gedient werden kann. beide aber liegen in einem entscheidenden punkt falsch.

zwar will immerhin der eine ein zeichen setzen. die öffentlichkeit, also möglichst viele menschen immer wieder aufmerksam zu machen, wo handlungsbedarf besteht, das wäre wichtig und richtig. aber die aktion wird zur farce, wenn sie isoliert läuft, wenn kein konkretes politisches, gesellschaftliches, wirtschaftliches handeln folgt. was ist ein „zeichen“ eines präsidenten wert, wenn dessen staat mit waffenexporten, also tötungsmaschinen laufend unmengen reibach macht?

der andere will erst gar keine zeichen setzen, er will vermutlich landestypisch „gmaitlich“ mal mit dem wladimir einen heben und im bei gelegenheit – wenn das gegenüber zumindest schon angeheitert sein wird – flüstern, dass das mit den menschenrechten eigentlich irgendwie schon ein bisserl wichtig sein könnte. aber wladimir, du wirst das schon richtig machen, prost. konfliktscheue politik eines noch konfliktscheueren landes mit einer der konfliktscheuesten bevölkerungen? obwohl rein gar nichts zu verlieren wäre. oder doch?

menschenrechte. das sind lästige anhängsel. sozusagen fussnoten der politischen welt. wäre die welt ein verein, würden die menschenrechte unter „allfälliges“ behandelt. wo keine beschlüsse mehr fallen müssen. menschenrechte. die sind immer so ein „a ja, nochwas“ thema, aber nie ernsthaft im mittelpunkt. es sei denn, es geht darum, einen massiven waffengang gegen ein in ungnade gefallenes regime emotional aufzubereiten.

menschenrechte sind für die berühmte wurst, wenn sie nicht wirklich verinnerlicht, zur grundhaltung einer gesellschaft, der politisch agierenden und aller verantwortlich handelnden werden. menschenrechte taugen nicht als drüberstreuer für sonst menschenverachtende systeme.

menschenrechte sind nichts für zwischendurch.