die notarielle unschuld österreichs

in einem interview in der zib2 spezial am 8.5.2020 zum gedenktag „75 jahre befreiung vom nationalsozialismus“ sagte der ehemalige bundeskanzler franz vranitzky:

„mir ist wichtig herauszuarbeiten, dass die schuld am nationalsozialismus nicht die republik österreich trifft. die republik österreich hat es ja zwischen 1938 und 1945 gar nicht gegeben.“

wolfgang schüssel, ebenfalls ehemaliger bundeskanzler pflichtet ihm im gleichen gespräch bei:

„ich bin dankbar für die klarstellung, dass österreich tatsächlich nicht existiert hat von 1938 bis 1945.“

das ist volksweglegung. wie wenn die österreicher*innen 1938 aufgehört hätten zu existieren, um dann 1945 wieder aufzuleben. oder wie wenn die österreichische bevölkerung kurz mal „ganz privat“ am zweiten weltkrieg und dem holocaust mitgewirkt hätten, also in ihrer „auszeit“ zu verbrechern geworden wären um dann, 1945 wieder als brave österreicher*innen in aller unschuld das alles hinter sich zu lassen.

das klingt nicht ganz nach historischer oder politisch verantwortlicher einsicht, die 75 jahre nach der befreiung zu erwarten gewesen wäre, sondern es klingt nach der offenbar zutiefst österreichischen sehnsucht des reinwaschens.

inzwischen kann niemand mehr sagen, dass das alles nicht so war mit der shoa und den verbrechen. käme nicht gut. aber die aussage, dass die naziverbrechen nichts mit der republik zu tun hätten, treibt das vollwaschmittel in die innersten wollfasern der österreichischen(?) seele.

schon angenehm:
die notarielle unschuld österreichs

 

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bild: screenshot orf

straches spiel mit dem changiereffekt

wahlkampf kann und darf nicht heißen: „alles ist erlaubt“

mit der glasklaren ansage vergangenen sonntag im hinblick auf die wahlen in wien, es sei „spätestens heute sichtbar geworden, dass wir dort erstmals seit 70 jahren stärkste kraft werden können“, spricht strache klartext. unverblümt werden also die politischen wurzeln offengelegt. 1943 bis 1945 war hanns blaschke bürgermeister von wien, ein ehemals illegaler funktionär der nsdap und mitglied der ss. strache stellt sich also offen und ohne hemmungen in die reihe jener, die europa in die größte katastrophe gestürzt haben.

wer solches tut, kalkuliert kaltblütig mit der schwäche der andersdenkenden. während diese sich schockiert abwenden, überlegen, was sie sagen könnten, wie sie dazu stellung beziehen würden, wenn sie es denn tun würden, hat der haudegen schon seinen sieg davongetragen.

bewusstes strickmuster

das strickmuster ist bewusst gewählt: „seit 70 jahren“ gibt es auch die demokratie in österreich, vor 70 jahren wurde der nationalsozialismus besiegt. 1945 ist natürlich der wendepunkt, auf den so oder anders bezug genommen werden kann. es ist aber kein zufall, dass strache hier bewusst mit dem changiereffekt spielt. die einen hören ein harmloses statement, die anderen ein zwinkern mit dem rechten auge. die „richtigen“ werden es schon verstehen. die diskussion darüber, wie das jetzt wirklich gemeint war, das dementi und die neuerlichen dispute sind eingeplant. dennoch: wer sich auch nur indirekt in die nähe des dritten reichs stellt, darf für niemanden möglicher ansprechpartner sein.

sich in österreich politisch sich zu disqualifizieren ist anscheinend unmöglich. wenn selbst nach solch offenen anknüpfungen an die braune vergangenheit einfach nur weiter der alltag des wahlkampfs stattfindet, ohne dass jemand stopp ruft, darf sich niemand über das sich abzeichnende blaue „wunder“ echauffieren.

demokratische grundwerte

wahlkampf kann und darf nicht heißen: „alles ist erlaubt.“ wahlkampf muss immer die demokratischen grundwerte achten und verteidigen. wer sich in die tradition der feinde der demokratie stellt, betreibt wiederbetätigung. lange bevor das juridisch verfolgbar wäre, müsste es politisch geächtet und wirksam zurückgewiesen werden. aber wer an sich selbst kaum mehr glaubt, wird kaum mehr glaubwürdigkeit vorspielen können.

die demokratische mehrheit muss aber unbedingt zu klareren positionen finden, statt bloß den kopf über strache und die seinen zu schütteln. die demokratische mehrheit muss nicht trotz, sondern gerade wegen der unmittelbar bevorstehenden wahl klarmachen: die demokratie steht nicht zur disposition. (bernhard jenny, derstandard.at, 30.9.2015)

jubeln? nicht? vergessen?

70 jahre zweite republik. feierliche ansprachen. grosse gesten. ehrengäste. und dennoch will nicht so richtig feierstimmung aufkommen. irgendwie sind wir ermattet. müde. wir können sie fast nicht mehr hören, die einen und die anderen redner_innen. was ist los?

 

bild: guentherz creative commons licence by

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? selbstverständlich! grosser jubelschrei für die befreiung vom naziterror, grosser jubelschrei für das ende des holocaust, grosser jubelschrei für die überwindung des weltkrieges. grosser jubelschrei für den wiederbeginn einer welt, die aus dem grauen lernen will, lehren daraus ziehen will, bewusstsein sichern will.

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? natürlich nicht! wie sollten wir jubeln angesichts der tatsache, dass so vieles nicht geschafft, so vieles wieder verloren gegangen und so vieles ganz gehörig schief gegangen ist? jubeln ist nicht angebracht, angesichts der zunehmenden verteilungsungerechtigkeit, der wachsenden kapitalkonzentration und des ungebremsten aussaugens der bildungs- und sozialsysteme. und die toten an den aussengrenzen des kontinents, in anderen ländern, in anderen kontinenten – egal?

70 jahre zweite republik. wäre das nicht einen grossen jubelschrei wert? nun, jubelschrei vielleicht nicht, aber zufriedenheit, genügsamkeit oder gar etwas bescheidenheit würden uns gut tun. demut wäre angebracht, wenn wir bedenken, wie gut es uns eigentlich in unserem land im durchschnitt geht. dabei sollen nicht die verlierer_innen in unserem ungerechten system vergessen werden, aber es steht uns wahrlich nicht zu, in unserer situation zu jammern. wir sollten dankbarer sein. zu dieser dankbarkeit gehörte dann auch das ablegen von neid, gier und habsucht. zu dieser dankbarkeit gehörte eine offenheit, die menschen als solche annimmt, aufnimmt, unterstützt und sichert.

was sagen uns wohl jene menschen, die vor 70 jahren wieder neu angefangen haben, die erleben mussten, was hunger, lebensgefahr und diktatur bedeuten und fortan jedes stück brot und jede ruhige minute wertschätzen konnten? was sagen uns jene menschen, die vor 70 jahren es wagten, wieder ein leben aufzubauen?

versetzen wir uns nach 70 jahren in die ersten tage der „nachkriegszeit“ und überlegen wir doch mal für ein paar minuten, wo wir im vergleich dazu heute stehen. ja, es liegt vieles im argen, aber nein, wir haben kein recht, uns zu beklagen. unser reichtum und unsere sicherheit sind uns verantwortung.

und vergessen wir nicht, warum die grosse katastrophe überhaupt entstand. welche gewalten jene entfesseln konnten, die uns menschen in „richtige“ und „falsche“, in „lebenswerte“ und „unwerte“, in „gesund“ und „krank“ sortieren wollten.

jubeln? nicht? vergessen?

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dieser artikel ist am 28.4.2015 auf fischundfleisch.com erschienen und ist auch dort direkt aufrufbar.
bild: guentherz creative commons licence by

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