schluss mit kunst. schluss?

mit „schluss mit kunst“ stellte dieser tage editta braun sich, ihrer company und dem publikum in der ARGEkultur im rahmen des „tanz_house herbst 2011“ (salzburg) eine frage. oder ist es eine feststellung, gar eine forderung?

tomaž simatović, špela vodeb, manel salas foto: © murillo bobadilla

ja es ist schluss. tanztheater funktioniert in unserer welt nicht mehr ohne stellungnahme zu den verbrechen und katastrophen, die uns täglich über die medien überrollen. kunst kann schon lange nicht mehr ohne konkreten bezug. die tanzkunst aber hielten viele länger noch als „immun“, jetzt hat es auch diese erwischt. das desaster schwappt jetzt auf die bühne. die künstlerInnen können (oder wollen) sich nicht mehr abschotten. doch kann überhaupt noch getanzt werden, angesichts von „klimawandel, finanzkrise, artensterben, hunger hier und überfluss dort“?

das publikum wird zeuge eines arbeitsprozesses, ein einblick in den künstlerischen gestaltungsvorgang wird gewährt. die „probe“ wird immer wieder von nur allzubekannten, lästig eindringlichen videobildern und interviews überschwemmt. es hätte bei der bangen frage bleiben können.

manel salas foto: © murillo bobadilla

der abend wird aber zu einem überwältigenden statement für die kunst. der tänzerischen leistung von tomaž simatović, špela vodeb und manel salas ist es zu verdanken, dass die zweifel an der kunst rasch verschwinden müssen.

ob in den szenen, wo sich alle drei oder zwei tänzerInnen aufeinander einlassen oder in den beeindruckenden soli, allein dadurch wie sie ihre authentische betroffenheit und ratlosigkeit tänzerisch darstellen und umsetzen wird klar, was kunst – in diesem falle tanzkunst – den schreckensszenarien und katastrophenmeldungen entgegensetzen kann: die wirkliche, die ehrliche betroffenheit.

špela vodeb foto: © murillo bobadilla

auch wenn sich ratlosigkeit breit macht, die mal fatalistisch, mal humoristisch gelöst werden soll, bleibt die botschaft des abends klar: wenn tänzerInnen sich so ungeschützt offen und rücksichtlos ehrlich auf der bühne bewegen, dann sehen alle rhetorischen fragen schnell alt aus. und ganz nebenbei entsteht eine neue ästhetik.

es ist also alles andere als schluss mit der kunst. wenn kunst sich positioniert und künstlerInnen sich ihrer machtlosigkeit, verzweiflung, aber dann auch träumen und sehnsüchten bewusst stellen, dann ist das genau jener weg, der uns auf neue ideen bringen könnte.

und die haben wir alle dringend nötig.

tomaž simatović foto: © amersdorfer

ps. es freut mich, dass ich neben kurt palm und christian felber einen textimpuls zu dieser produktion beitragen durfte. es ist schon etwas besonderes, gedanken aus diesen impulsen dann so engagiert performt zu erleben. danke!

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http://argekultur.at/projekte/2011/schlussmitkunst/index.aspx

http://www.editta-braun.com

veränderung braucht innere bilder

hätte es noch eines beweises bedurft, dass interkulturelle begegnung niemals nur das mischen von identitäten ist, sondern dass aus einem aufeinander einlassen immer mehr entsteht, neues und unerwartetes, dann wäre shantala shivalingappa und sidi larbi cherkaoui letzen samstag mit „play“ im festspielhaus st.pölten der endgültige beweis dafür gelungen. gerade weil niemand seine eigene identität verleugnet, sondern im bewussten bezug zu seinen wurzeln und herkünften steht, wird erlebbar, wie aus eins und eins mindestens sieben, wenn nicht zehn oder elf wird.

sidi larbi cherkaoui shantala shivalingappa foto: tristram kenton

shantala shivalingappa ist in madras, indien, geboren und in paris aufgewachsen, kehrte dann aber nach indien zurück, um dort die traditionelle indische kuchipudi-tanzform zu erlernen. sidi larbi cherkaoui ist marrokanisch-flämischer sohn eines muslim und einer katholikin, der in antwerpen geboren und aufgewachsen ist.

wir können der 2009 verstorbenen pina bausch für die folgenreiche idee dankbar sein, diese beiden tänzerInnen zu einer zusammenarbeit einzuladen. für viele scheint harmonie nur bei ähnlichkeit oder gleichheit denkbar zu sein, hier wird harmonie nicht trotz der gegensätze und ungleichheit der akteurInnen, sondern gerade durch die annehmende offenheit möglich.

shantala shivalingappa und sidi larbi cherkaoui gelingt mit diesem abend, an dem sie für choreografie, regie, tanz und gesang verantwortlich sind gemeinsam mit den hervorragenden musikerInnen patrizia bovi (gesang und harfe), gabriele miracle (percussion und hackbrett), olga wojciechowska (violine) und tsubasa hori (kodo-trommel) eine unglaublich dichte abfolge von beeindruckenden bildern, die dem geist gut tun.

jenem geist, der mit inneren bildern visionen und perspektiven entwickelt, die ohne diese bilder nicht so leicht entstünden. dabei entwickeln diese bilder gerade deshalb eine besondere kraft, weil sie niemals eindeutig sind, sie changieren in kontrasten und gegensätzen, verweben ernsthafte tiefe mit selbstironie und humor, fröhliche leichtigkeit mit meditativer zentriertheit.

und diesen geist wollen sie ihre aufmerksamkeit widmen. ein von shantala shivalingappa formuliertes statement bringt dies auf den punkt:

bis vor kurzem glaubte die wissenschaft, dass unser gehirn ab dem erwachsenenalter in seinem aufbau endgültig definiert sei. nun wurde aber entdeckt, dass durch entsprechendes training veränderungen möglich sind. wenn dies zb. durch konsequentes üben am klavier möglich ist, warum sollte das nicht auch durch konsequentes üben menschlicher qualitäten wie aufrichtigkeit, güte und friedfertigkeit möglich sein? wir verwenden viel zeit für erziehung und einübung verschiedenster fertigkeiten, aber erstaunlich wenig zeit für das üben dessen, was am wichtigsten ist: die übung unseres geistes.

ein solches statement hätte auch schulmeisterlich belehrend wirken können, wäre da nicht soeben ein erfrischend humoriges bild voller feiner selbstironie davor gewesen.

sidi larbi cherkaoui shantala shivalingappa foto: tristram kenton

es ist scheinbar paradox: je tiefer die künstlerInnen das geschehen auf das individuum mensch, jeweils auf sich selbst herunterbrechen, je authentischer sich die beiden im ständigen wechselspiel aufeinander einlassen, umso allgemein gültiger scheinen die botschaften zu werden.

durch die zentriertheit in sich selbst erblüht hier anmutig kulturelle vielfalt und menschliche pluralität. die getanzten, gesungenen und musizierten bilder sind zumindest hilfreich, an eine welt zu glauben, in der alle platz haben, genau so, wie sie sind.

tanztheater fordert glauben an utopien

tomaz simatovic, viviana escalé © Bettina FRENZEL

so aufgelöst und kaum vorhanden die grenzen zwischen heute und mittelalter, zwischen news und sagenwelt erscheinen, so klar und deutlich kommt die aussage rüber: mit „könig artus“ (gestern und heute im rahmen des tanz_house festivals in der ARGEkultur) bezieht editta braun und ihre company stellung: wir dürfen nicht aufhören, trotz aller gescheiterten versuche und bitteren niederlagen an ein friedliches zusammenleben zu glauben – selbst wenn es eine utopie zu sein scheint. so klare, mit allen mitteln ausgedrückten botschaften sind in den letzten jahrzehnten des tanztheaters selten. oft genug wurde fast krampfhaft versucht, nur ja nicht eindeutig, nicht einmal vieldeutig, sondern gezielt diffus zu bleiben. nicht so die editta braun company. sie wird konkret.

und das ergebnis ist ein ganzes.

markus kofler © Bettina FRENZEL

markus kofler kontrolliert als merlin akrobatisch das geschehen rund um artus, verfällt aber immer wieder in zweifel, experimentiert mit den menschen, scheint gefallen daran zu finden um letztlich aufzugeben, kennt er doch als einer, der auf der timeline von vorne nach hinten unterwegs ist, bereits das ergebnis der bemühungen des königs. koflers vielschichtig angelegte präsenz erreicht, dass dieser merlin weder besserwisser noch belehrender bleibt, sondern weggefährte und mitleidender des königs wird.

tomaz simatovic © Bettina FRENZEL

dieser, von tomaz simatovic sehr detailgenau und einnehmend einfühlsam dargestellt, durchwandert alle gemütszustände des lebens. simatovic ist weder tanzender schauspieler noch schauspielender tänzer, er vereint wie selbstverständlich diese genres, errichtet räume, zeiten, emotionen auf fast leerer bühne. er eröffnet bewegungsabläufe, die ein einlassen fast erzwingen, zumindest dazu einladen, denn er führt sie sicher konsequent zu ende, und dann hinein in die nächste szene.

viviana escalé © Bettina FRENZEL

viviana escalé bringt, ganz das wesen aus der anderswelt, jene zartheit und sinnlichkeit auf die bühne, die artus so verzweifelt sucht. sie nimmt sich zeit, feinheiten zu entwickeln, die, gerade noch da, für die irdischen betrachterInnen viel zu schnell verwehen. sehnsucht entsteht, noch mehr von diesen, in einer aufgeklärten welt verpönten qualitäten sehen zu können.

nochmal: das ergebnis ist ein ganzes.
die musik von thierry zaboitzeff, die mal in die sagenwelt entführt, dann wieder in die heutige dramatik versetzt, ist ebenso unverzichtbar für diese produktion, wie das bemerkenswerte lichtdesign von peter thalhamer, das durch klarheit und exaktheit überzeugende szenen ermöglicht.

die texte, welche basierend auf t.h.whites romanadaption gemeinsam mit dem team und der dramaturgin gerda poschmann-reichenau erarbeitet wurden, trugen zur klaren aussage und zum mühelosen chanchieren zwischen mittelalter und gegenwart bei.

editta braun und ihrem gesamten team ist da ein konkretes statement gelungen. gesellschaftspolitische positionsangabe ebenso wie position in sachen tanztheater. ganz festival.

ps. dass sich editta braun und die künstlerInnen im anschluss an die uraufführung einem publikumsgespräch stellten, obwohl sie dabei in der überzahl blieben, ist auch bemerkenswert.

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fotos: © bettina frenzel, fotografin, wien